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möglich? Für mich lag das Geheimnis in der bei den Franzosen tiefverwurzelten Achtung menschlicher Werte und Würde. Von Albi aus fuhr Burmetz immer wieder nach Marseille, um ein Einreisevisum in die USA oder andere Staaten zu bekommen. Die Situation für die jüdische Bevölkerung wurde auch im unbesetzien Frankreich immer gefährlicher, weil auch hier die Deportationen in den großen Städten bereits im Gange waren, besonders in Marseille. Wieviel Glück Burmetz bei seinen Fahrten in diese Stadt hatte, zeigen die folgenden Erlebnisse. Bei einem meiner Besuche im Dezember 1941 oder Jänner 1942 musste ich über Nacht bleiben. Ich ging wieder in die Gegend mit den engen Straßen und den kleinen Hotels und fand eines, das ein bisschen besser wirkte als das vorige. Mitten in der Nacht wurde ich von Lärm auf dem Gang geweckt. Entfernt hörte ich Türklopfen und Stimmen, aber ich war viel zu müde, mich viel darum zu kümmern. Dann aber kamen die Geräusche näher. Sie kamen eindeutig von meinem Gang, nur ein paar Zimmer weiter. Ich hörte wiederholtes heftiges Klopfen und eine laute, bestimmte Stimme. All das näherte sich, schnell wie der Wind. Als mir dämmerte, was vor sich ging, fühlte ich mich wie gelähmt. Es gab drei laute Schläge an die Nachbartür, gefolgt von „Aufmachen! Polizei!“ Zur gleichen Zeit setzte sich auch das weiter entfernte Klopfen und Rufen fort. Lautere Schläge an die Nachbartür folgten und darauf ein weiteres „Aufmachen! Polizei!“ Durch die dünne Holzwand, die unsere beiden Zimmer trennte, konnte ich meinen Nachbarn hören, wie er sich in seinem Bett aufsetzte. Die Schläge und Rufe gingen weiter, immer ungeduldiger. Nun hörte ich eine verzagte, zögernde Stimme antworten: „Ja...2“ „Los! Los!“, brüllte es von draußen, begleitet von weiteren Schlägen an die Tür. „Ich komme schon. Ich komme ja schon“, antwortete mein Nachbar, kaum hörbar. Ich konnte es fast spüren, wie er seine Gedanken jetzt verzweifelt auf die Suche nach einem wundersamen Weg konzentrierte, der drohenden Verhaftung zu entkommen, die mit großer Sicherheit die Deportation bedeutete. Ich wusste, er saß immer noch im Bett und suchte krampfhaft nach einer Idee. Das Klopfen hatte inzwischen aufgehört, die Polizisten oder Gendarmen, oder wer auch immer vor der Türe stand, berieten sich untereinander. Dann gab cs plötzlich einen lauten Krach und die Türe sprang auf. „Aber ich komme! Ich komme ja schon!“, hörte ich den Nachbarn schnell rufen. Dann hörte ich, wie er sich eilig anzog und begleitet von den schweren Schritten der Polizisten sein Zimmer verließ. Nun also würde ich an die Reihe kommen und ich wusste, es gab nichts, was dagegen zu tun war. Welche Gedanken und Gefühle durchströmten mich in diesen zwei, drei Minuten! Welch ein Wechsel in der Einstellung von Angst, Hoffnung, Verzweiflung, Aufbegehren, Widerstand und am Ende Unterwerfung unter die kalte Logik des Unvermeidlichen — ich versuche nichts davon zu beschreiben. Aber die Schläge an meiner Türe blieben aus. Sie war die letzte auf dem Gang und nachdem sie meinen Nachbarn davongeschleppt hatten, verklang der Lärm ihrer Stiefel. Den Rest der Nacht schliefich nicht. Ich wagte mich auch nicht auf den Gang. Würden sie wiederkommen? Waren sie noch im Hotel? In den unteren Geschoßen? Im Morgengrauen bereitete ich mich aufs Gehen vor. Unten im Büro war der Besitzer, ein kleiner sympathischer, schr alter Mann, unglücklich und erregt. Ich fragte ihn, was in der Nacht losgewesen sei und er antwortete, dass „diese Dinge“ in letzter Zeit immer wieder passierten. Niemand wusste den genauen Zweck, aber Gerüchte besagten, die Razzien würden aufgrund deutscher Befehle durchgeführt. Dann sagte er: „Die haben aus Ihrer Etage jeden einzelnen mitgenommen — nur Sie nicht.“ Nach einer Weile fuhr er fort: „Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.“ Er zeigte mir sein Gästebuch. Gut zwei Drittel waren mit rotem Bleistift angestrichen. „Zuerst haben sie sie hier herausgesucht“, erklärte er, „und dann gingen sie sie holen. Alles Ausländer.“ Er blätterte zurück und zeigte auf meinen Eintrag, der nicht angestrichen war. „Als sie zu Ihrem Eintrag kamen, fragten sie mich, ob Sie Franzose seien und ich sagte ja. Dann nahmen sie sich den nächsten Eintrag vor.“ Er tippte mit seinem Finger auf das Wort „Syrie“ und blickte mich an. „Syrien ist Französisch, oder?“, fragte er. „Ich glaube schon“, antwortete ich. „Die wussten es nicht und darum haben sie mich gefragt. Stellen Sie sich vor...“ Ich hatte im Gästebuch als Geburtsland „Syrie“ eingetragen und die Nationalität leer gelassen. In ihrer Eile mussten sie Geburtsort und Nationalität vertauscht haben. Als 1942 die ersten Deportationen aus Albi bekannt wurden, beschloss Burmetz, mit seiner Familie illegal über die Berge in die Schweiz zu flüchten, was sich als unerhört kraftraubend erwies, noch dazu, weil die kleine Tochter Mignon, mittlerweile schon fünf Jahre alt, noch immer ein Gipskorsett tragen und entweder in einem Wagen geschoben oder getragen werden musste. Nur mit der Hilfe von französischen Waldarbeitern im Grenzgebirge zur Schweiz war ihnen der steile Aufstieg zum Gipfel möglich, von wo aus sie dann, auf sich gestellt, auf der Schweizer Seite weiter mussten, ständig in Gefahr, von Schweizer Grenzsoldaten angehalten und zurückgewiesen zu werden. Einer der beiden Männer band sich unser Gepäck auf den Rücken, der zweite nahm Mignon auf den Arm und wir begannen den Hang zu besteigen. Sie gingen schr schnell und wir mussten uns ordentlich anstrengen, um mit ihnen mitzukommen. Diesen Männern war dieses Land wirklich vertraut. Als der Hang so steil wurde, dass Alice zu rutschen begann, packte einer der Männer ihre Hand und zog sie beim Gehen einfach mit. Ich schaffte es immer noch alleine, ging seitlich und setzte die Kanten der Sohlen ein. Bald aber brauchte ich selbst Hilfe und bekam die Hand des anderen. Er trug Mignon aufeinem Arm und mir wurde bewusst, um wie viel sicherer sie bei ihm war, als wenn ich sie getragen hätte. Wir waren nun daran, den steilsten Teil in Angriff zu nehmen und versuchten, die beste Formation fürs Klettern zu finden. Am Ende nahmen die beiden Männer Alice in die Mitte, jeder nahm eine ihrer Hände und so zogen sie sie hinauf. Der Mann mitdem Gepäck auf dem Rücken gab mir seine linke Hand und Mignon wurde vom rechten Arm des anderen Mannes festgehalten. April 2013 43