OCR
War das ein Anstieg! Und welche Anstrengung er kostete. Es gab kein Stehenbleiben oder Rasten. Es war eine einzige Abfolge von Gleiten, Rutschen und Fallen. Doch die viergliedrige Kette hielt stand. Sowie ein Teil hinunterzurutschen drohte, hielt der Rest sie und zog sie nach. Obwohl wir aufrecht gingen, waren unsere Gesichter nahe am Boden. Der Mann, der Mignon trug, musste sie schr nah an sich halten, um nicht hintüber zu kippen und die Kleine beschwerte sich in einem fort, dass sie viel zu stark gedrückt werde. Es war unmissverständlich: Rutschen war ungefährlich und konnte jederzeit gestoppt werden, doch Rückwärtskippen bedeutete das Ende. Während des Anstiegs wurde kein Wort gesprochen. Wir alle brauchten jeden Funken Energie in uns und waren damit beschäftigt, so schnell und tiefzu atmen wie möglich. Unsere beiden Freunde leisteten gut das Doppelte von uns. Niemals wären wir ohne sie hier heraufgekommen. Nicht mit den besten Bergschuhen und ohne jede Ladung. Manchmal fühlte ich meinen Helfer mein gesamtes Gewicht hinaufzichen und einige Male wäre ich ohne seine Hilfe nach hinten gekippt. Mehrmals hörte ich Alice schnaufen: „Stehenbleiben! Ich kann nicht mehr!“, aber die beiden zogen sie einfach fester und marschierten weiter. Und am Ende erreichten wir wirklich den Gipfel. Wir blickten auf der anderen Seite hinunter und sahen schemenhaft die Talsohle. In der Mitte war ein Licht zu sehen und unsere Freunde deuteten darauf - es war das Haus, zu dem zu gehen sie uns geraten hatten. Wir sahen die steilen Felsen zu unserer Rechten und zur Linken den geraden Weg, der weder bergauf noch bergab führte. Die beiden gingen noch ein paar hundert Meter mit uns, bis wir auf einem Ziegenpfad waren, und nahmen mit dem Wispern: „Ihr seid nun in der Schweiz! Viel Glück euch allen!“ Abschied. Wir schüttelten die Hände. Dann gingen sie und waren schon nach weniger als einer Minute nicht mehr zu schen. [...] Wir kamen an eine Stelle, wo der Pfad plötzlich scharf nach links abbog. Alice ging immer noch voran und es war ein Wunder, dass sie die Abbiegung bemerkte und dem Pfad folgte. Als ich den Abgrund sah, den der Pfad umkurvte, fühlte ich, wie sich unwillkürlich meine Haare sträubten. Bald danach fiel die Kante nicht mehr so scharf ab und die Zähne oder Nadeln begannen sich zaghaft zu zeigen. Sie wirkten wie große Phantome, die über den Hang auf uns zukriechen wollten. „Wir müssen nun nach den Pfaden suchen, die hinunterführen“, sagte ich. Aber ich muss mich sehr zögerlich angehört haben, denn Alice fragte: „Müssen wir wirklich? Ich glaube nicht, dass wir das können.“ Es war vollständig finster geworden. Die gesamte Landschaft wirkte irreal, wie ein Phantasiegebilde. Die einzigen deutlich sichtbaren Dinge waren das blasse Licht weit unter uns, das für uns „das Haus“ war, und über uns die Sterne und ein paar Wolken. Nach den Sternen zu greifen oder zum Licht hinunter zu springen, wäre uns vollkommen normal und sinnvoll erschienen, aber diesen geisterhaften Hang hinunterzusteigen, schien ein Widerspruch in sich selbst. Irgendwie waren wir in einer unbekannten Welt zwischen Himmel und Erde. Unsichtbare Kräfte versuchten, uns aus dieser seltsamen Welt zu ziehen, um uns auszulöschen. Da war jene, die Alices Hut hinuntergeworfen hatte, und jene, die auf uns an der scharfen Linksbiegung gewartet hatte, und da war das Licht da unten, das uns einlud, hinunter zu springen oder gar 44 ZWISCHENWELT zu schweben. Was war das für eine seltsame Schattenwelt, in der wir verweilen mussten, um weiterzuleben. Ein Sprung, hinunter zum Licht, und wir würden sterben. Die Ein-Licht-Welt unter uns und die Viele-Lichter-Welt hinter den Wolken da oben, beide lockten uns ins Nichts. Beide konnten genauso gut in Reichweite unserer Hände oder Füße sein, wie viele, viele Kilometer entfernt. „Ich glaube nicht, dass wir das können“, hörte ich Alice wiederholen und fühlte mich sofort alarmiert. „Warte, Alice! Versuche nichts! Beweg dich nicht! Wir wollen nicht hinunter!“ Ich war wieder hellwach und versuchte die Schattenbilder zu vertreiben, die uns umgaben. [...] Wiirden wir es schaffen und den Zug erreichen, bevor die Grenzwachter uns einholten? Aber warum sollten sie uns folgen? Vielleicht hatten sie uns nicht einmal gesehen. In der Nacht, auf dem Kamm - sicher nicht. Am Morgen waren wir zwar bei Tageslicht den Abhang hinunter gegangen, aber der war nicht von überall einsehbar, nicht vom Bergrücken und auch nicht vom Haus der Grenzwächter, nicht einmal mit einem Fernglas. Trotz all dieser gegenseitigen Versicherungen gingen wir schneller. „Laufen wir ein bisschen“, sagte ich zu Alice und wir warfen die letzte Decke, die wir immer noch mit uns trugen, fort, um noch schneller zu sein. Wir eilten seit etwa einer Stunde durch den Wald, als wir zwei Leute hinter uns bemerkten, die drauf und dran waren, uns zu überholen. Ein kurzer Blick zurück und ich sah, dass sie uniformiert waren und Gewehre trugen. Wir blieben stehen und traten zur Seite, um sie vorbeizulassen. Wir grüßten und sie gingen weiter. Ich dachte schon, dass wir wieder einmal Glück gehabt hätten, doch sie hielten an und kamen zurück. Trotz des auch zu diesem Zeitpunkt nicht korrekten Verhaltens der Schweizer Grenzwächter, die die Familie zwingen, wieder über dir französische Grenze zurück zu gehen, endet die Flucht nach einem neuerlichen illegalen Grenzübertritt glücklich: Der Familie gelingt es, sich ins Landesinnere, nach Lausanne, durchzuschlagen, wo ihr schließlich Asyl gewährt wird. Die dramatische Flucht hatte am 25. August 1942 in Albi begonnen und endete am 5. September in Lausanne. In seinem Nachwort stellt Gustav Freudmann aufgrund neuer Recherchen die Hintergründe der Asylgewährung von Schweizer Seite dar, und Ueli Raz rekonstruiert den Weg über das Gebirge, den die Familie genommen hatte. Isidor Heller, geb. 18.2.1906 in Palästina als Sohn einer frommen jüdischen Familie, wurde 1917 zu Verwandten nach Ungarn geschickt, gelangte dann mit einem Hilfsprogramm für notleidende Kinder in die Niederlande, wo er 1923 in Enschede eine Handelsschule abschloss. 1927-30 besuchte er eine Maturaschule in Wien und studierte bis 1936 Mathematik an der Universität Wien. Erst 1950 erlangte er in Genf das Doktorat. Im Herbst 1950 wanderte die Familie in die USA aus, wo Isidor Heller als Mathematiker Beschäftigung bei Forschungsprojekten der US-Navy fand und an verschiedenen Universitäten lehrte. Er starb am 10. Juni 1973 in Washington D.C. „Die Nacht hinter uns‘, herausgegeben und übersetzt von Gustav Freudmann, erschien als unverkäufliche Privatausgabe 2012 in Wien. (Anfragen bitie an Theodor Kramer Gesellschaft). Abdruck der Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Gustav Freudmann. Zusammenstellung der Auszüge: Eva Hötzendorfer.