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REZENSIONEN Ist sie noch immer sichtbar, die untrügliche Spur? Liest einer noch den Schatten der Halme? Was wird er schen, wenn er den Weg durchs Gelände nimmt? An einer Wand die Schrift? Unter dem Pflaster das Gras? Natur hat kein Gedächtnis, das kann man wissen. Gedenken und Gedanken liegen ihr fern. Erst der Blick in die Geschichte macht die Narben offenbar. 1998 forderte ein Martin Walser vernehmlich, Gras drüber wachsen zu lassen. Es war dann doch nicht so gemeint, aber Walser bestand darauf: Erinnerung schmerzt, wozu sich das antun? Das Gras wuchert seither noch dichter, es überwuchert jede Spur, auch die untrügliche. Wer kann das noch auseinanderschreiben? Heute flichen junge Dichter die Stadt, gehen aufs Land und lassen sich, nicht ohne eine leise, aber falsche Ironie, von der Natur verzaubern, freuen sich am satten Grün, bewundern die Vielfalt der Käfer, die auf den Halmen und Blättern sitzen, und können einen jeden beim Namen nennen, wie einst Ernst Jünger, der subtile Jäger. Naturlyrik war der Raum, wenige wissen es noch, in den die Besten, wenn sie nicht über die Reichsgrenzen fliehen mußten und konnten, sich vor den nationalsozialistischen Verfolgern retteten, als der äußere Druck zu stark wurde. (Die Schwächeren zog es in das Jahrhundert Goethes zurück, der schöne, deutsche Geist erlaubte Kompromisse.) Man darf vermuten, daß der Weg der aktuellen deutschsprachigen Lyrik zum Naturgedicht nicht zum wenigsten einer Strategie entspricht, dem Albdruck der nationalen Geschichte auszuweichen. Schon im Titel seines Erstlings, „Druckkammern“, macht einer der Jüngsten deutlich, daß er Anlaß und Willen hat, nicht auszuweichen, sondern der Spur zu folgen. Der Druck ist ja spürbar vorhanden, und er kommt von den Kammern her. Der Autor sagt nicht, von welchen Kammern: der Assoziationsraum scheint klar. „unter der dusche/ masturbiert er gerne/ das ist unkompliziert“, heißt es einmal, nur „wenn es sein muss/ denkt er an auschwitz“. Aber es wäre auch möglich, an die Hohen Kammern und ihre Lobby zu denken, wo die konzentrierte Macht manchmal ihre Schleier leicht lüftet und verschämt einen Teil ihres wahren Gesichts zeigt. Ebenso könnte man an jene verschwitzten Schlafkammern und verrauchten Hinterzimmer denken, wo diejenigen heranwachsen und herangezogen werden, die einmal, wie auch damals, die schmutzige Arbeit verrichten sollen. Damit erinnert der Autor an etwas, was leicht vergessen wird, wo man sich bloß der Erinnerung hingibt. Die Spur ist untrüglich, wenn man die Spuren nicht verwischt. Max Czollek ist 1987 im östlichen Teil Berlins, damals noch Hauptstadt der DDR, geboren. 58 _ ZWISCHENWELT Er besuchte hier seit 1993 die neu gegründete Jüdische Schule, nahm dann an der HumboldtUniversität ein Studium der Politologie auf, das er gegenwärtig in London mit einer Dissertation abschließt, die sich einem theoretischen Thema im Bereich der Antisemitismusforschung widmet. Er verbrachte ein Jahr in den USA, ein weiteres halbes Jahr in Israel. Der Dichter ist also historisch hinreichend belehrt. Er nimmt den Städten ihre angebliche Lebensfreude im kapitalistischen Glitzerglanz nicht ab, noch glaubt er an die grüne Unschuld ländlicher Idyllen. Überall schaut er sich aufmerksam um, wie einer, der Gefahr wittert. Was er wahrnimmt, sind die Spuren der alle sozialen Verhältnisse mächtig durchdringenden Gewalt. Hausfassaden mit Einschüssen „wie sommersprossen“ konnte man in Berlin noch in den neunziger Jahren sogar unweit vom Kurfürstendamm entdecken, der Dichter sieht sie wieder an der Brücke über die Drina, es ist Herbst: „an den bäumen die granatäpfel/ leuchtende kinderfäuste“. Kindliche Angst und pubertäres Entsetzen werden aufwachsen zu Wut und Haß, der Kreislauf der Gewalt dreht sich aus sich selber weiter: „felder reifer kreuze/ am straßenrand// hol die saat ein“. Auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee, weit im Nordosten Berlins, überwuchert Grün die Gräber. Die der hier Bestatteten gedenken wollten, wurden zerstreut oder ermordet: eine verlassene Nekropole, an diesem Ort sind sogar die einst zur Ruhe gelegten Toten ins blanke Nichts entlassen. Der Dichter notiert, wissend, aus welchem Schoß das Nichts kroch: „in allen wipfeln der störton/ der vögel“. Er ist „ein altes kind“, das sagt: „es ist so schön hier ... ein echter dinosaurierwald“. Und „der wind ... schwenkt den farn sagt/ kaddish über den knochen/ wuchert fremde höher“. Am Strand in Tel Aviv, beim ehemals deutschen Viertel, bemerkt der Dichter, das Schicksal der Vertriebenen im Sinn: „wenn es heiß wird/ schaue ich das meer hinab// es gibt hier keine möwen/ die heimweh kreischen.“ Drei Beispiele aus einer dicht gewebten Textur von Bildern, in denen die erstickenden Erfahrungen der Kindheit in eine genuin politische Auseinandersetzung geführt werden, weil der Autor sein kindliches, ganz aufmerksames Gesicht und Gehör nicht verloren hat, weil er wahrnimmt, nicht worauf er gestoßen wird im Lärm von Werbung und Warenkonsum, sondern worauf er stößt mit dem Willen, zu begreifen und zu sagen, was war und ist: die endlose Spur der Gewalt. Der legitime Ort des Begreifens ist für Max Czollek das Gedicht, wo Angst und Entsetzen unverstellt zur Sprache kommen. Seine Diktion ist im Grunde schlicht, und doch kennt der Autor sich in der raffinierten Wortkunst der jiingeren Lyrik bestens aus, so, wenn er die Semantik des einzelnen Wortes vervielfaltigt durch mehrfache Beziige in einer fragmentierten Syntax, und er bricht die sich einstellenden Zusammenhänge noch einmal durch den widerstrebenden Vers. (Ho, ho-/sianna.) Englisch ist fiir Max Czollek, wie fiir so viele von den Jüngeren, ein Teil der eigenen Sprache, es fließt, nicht ganz widerstandslos, mit, gestaltet so den synkopischen sound und erinnert daran, daß die Musik auch dieser Generation im englischsprachigen Raum wurzelt. Schön, wie Max Czollek auch die Sprache der Ermordeten, das Jiddische mit seinem eigentümlichen Satzbau, in diesen sound hineinkomponiert: eine unaufdringliche, leise Erinnerung an den Klezmer. Max Czolleks Gedichte haben eine urspriinglich jugendliche Kraft, sie gehen aufs Ganze und bleiben, „mit gänsehaut bespannt/ besessen von duschköpfen“, konkret bei der Sache, sie kennen die Namen und verschonen keinen, auch nicht den Dichter selbst. Man hört den Schrei, wenn er schreibt. An einigen Stellen kommt die Sprache dieser Gedichte dem expressionistischen Gestus spürbar nahe. Aber sie ist niemals und nirgends bloßes Gebrüll: es sind noch Lieder zu singen, wenn auch gerade die garstigen, die dem Mut der Verzweiflung entspringen. Ich stelle mir einen sehr alt gewordenen Theodor Kramer vor, dem, nachdem er beschlossen hat, selbst nicht mehr zu schreiben, die Gedichte Max Czolleks in die Hand fallen. Vielleicht würde er anfangs noch ein paar Zweifel hegen. Zu groß der Abstand der Generationen. Abbrechen würde er die Lektüre aber nicht, die Genauigkeit der Bilder würde ihn fesseln. Und spätestens auf Seite 73 (warum, kann man sich fragen, fehlen jetzt plötzlich die Seitenzahlen?), wenn kurz vor dem Ende des Buches Moyshe Leyb Halpern auftritt, der jiddische Dichter, der „in die städte gekommen“ ist, nach Wien und New York, um „als fremder sich auftrieb zu/ suchen“, Moyshe Leyb Halpern, „grün und glücklos durch/ den boden einer flasche“ blickend, „moyshe leyb/ den rauschen macht/ die angst im glas“: spätestens hier würde der uralte Dichter vielleicht vor sich hinmurmeln: Ja, wenn ich jung wäre... Gras, auseinandergeschrieben. Die Spur liegt frei, sie ist untrüglich. Nichts, nichts ist verloren. Matthias Fallenstein Max Czollek: Druckkammern. Gedichte. Ilustrationen: Frederik Jurk. Berlin: Verlagshaus J. Frank, Edition Belletristik 2012. 84 S., 13,90