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Gerhard Amanshauser (1928 — 2006), der einzelgängerische, stille österreichische Schriftsteller, dessen Werk nicht weniger als 30 Buchpublikationen umfasst und der als Soldat den Zweiten Weltkrieg mitmachte, war nach 1945 fasziniert vom Jüdischen. Er hörte Vorträge von Ernst Bloch, Max Horkheimer und Wolfgang Hildesheimer, hatte Kontakt zu Jean Am£ry, und als Adorno starb, bezeichnete er ihn als einen der wenigen, von denen er lerne. Ein exilierter jüdischer Freund, der sehr oft erwähnt wird, ist Leo Bond, befreundet auch mit Thomas Bernhard. In den Tagebüchern kommen sehr viele deutsche und österreichische Schriftsteller vor, die Amanshauser bei persönlichen Begegnungen, aber auch bei Lesungen beobachtete und, wie die Rezensentin findet, ausnahmslos trefHlich porträtiert. Daniel Kehlmann schreibt im Vorwort: „Natürlich ist er immer zu den schärfsten Urteilen fähig, aber gerade in ihnen spricht er als sachlich klarer Beobachter. Zum Beispiel haben unzählige Journalisten über den ostdeutschen Schriftsteller Franz Fühmann geschrieben, aber keiner hat solche Zeilen zustande gebracht ...“ Diesen Sätzen ist völlig zuzustimmen; und man könnte ohne Zögern beispielsweise den Namen Fühmann durch Rolf Hochhuth ersetzen. Im Abschnitt über eine Lesereise in den USA erwähnt Amanshauser auch viele amerikanische Schriftsteller, unter anderen E.L. Doctorow. In Kehlmanns Vorwort kommt jedoch der wichtigste Name in den Tagebüchern nicht vor. Fast auf jeder Doppelseite, bis hin zur berührenden Schilderung des Begräbnisses, erwähnt Amanshauser seinen Freund, den jüdischen Schriftsteller Hermann Hakel (1911 — 1987), der oft auch nur als H. abgekürzt wird. Über ihn wollte er sogar ein eigenes Buch schreiben. Die Schwierigkeit dabei wäre gewesen, „das Absurde mit dem Ernsten zu verbinden. H. nicht lächerlich zu machen und doch alles zu erzählen.“ Manuskriptteile dieses Projekts sind in die Edition eingeflossen. Hakel war für Amanshauser „der intelligenteste Mensch, der mir untergekommen ist“, aber es gab den Widerspruch, dass er „von fast allen, die er sonst noch kannte, als unbedeutend, ja sogar dumm angeschen wurde“. Er beschreibt Hakels Gefühlstheatralik, dessen endlosen Redefluss und ständige Betonung des Judentums, später auch dessen Selbstironie. Leider zeigen die Beschreibungen Hakels in den Tagebüchern sehr oft die Außensicht, konkret die Rücksichtslosigkeit, Penetranz, Selbstbezogenheit und die äußerliche Vernachlässigung Hakels. Es ist ein einseitiges, alles andere als anziehendes Bild. In seine vielen, Mit der Niederschrift und Veröffentlichung des Hessischen Landboten im März 1834, auf den Menasse mit dem Titel seines Essaybands Der Europäische Landbote Bezug nimmt, hat Georg Büchner, 20 Jahre alt, Kopfund Kragen riskiert. Nach der Drucklegung im Juli wurde Karl von Minnigerode mit 150 Exemplaren des Zandboten verhaftet. Büchner wird von seinen Freunden gewarnt, bleibt aber vorerst im Land, worauf er in Offenbach und Friedberg verhört wird. Er schreibt noch Dantons Tod und flieht danach über die französische Grenze nach Straßburg, worauf er steckbrieflich gesucht wird. Dem Verfasser des Europäischen Landboten drohen weder Verhöre (außer jene von Seiten der Journaille) noch eine steckbriefliche Verfolgung, sondern weitere Preise. Auch wenn man im ersten Augenblick die Bezugnahme Menasses auf Büchners Landboten aufgrund der unterschiedlichen historischen Situation und Stoßrichtung als an den Haaren herbeigezogen zu beurteilen versucht ist, gibt es doch Gemeinsamkeiten. Büchner schrieb vor allem an gegen den Despotismus und die Kleingeisterei der deutschen absolutistisch regierenden Fürsten, die in ihrem anachronistischen, antirepublikanischen Weltbild nichts so sehr fürchteten als die Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution. Anachronistische Kleingeisterei kann man seit einigen Jahren und wohl auch noch in nächster Zukunft an der Spitze vieler europäischer Staaten ausmachen (abgesehen davon leisten sich gar nicht so wenige noch immer den Popanz einer Monarchie, und von den Regierenden erschreckten wohl auch heute noch gar nicht so wenige, konfrontierte man sie mit dem Inhalt des Hessischen Landboten und der Parole „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“). Kleingeisterei und Nationalismus gehen Hand in Hand, und vom Nationalismus ist es nicht weit zu einer rechtsextremen, xenophoben und autoritären Politik, wie in unserem östlichen Nachbarland zu beobachten ist. Eine unfassbare Entwicklung, unterfüttert mit unglaublichen Parolen und einer niederträchtigen politischen Praxis, wie sie sich schon länger im Umgang mit „Minderheiten“, aktuell aber auch in der Kulturpolitik, offenbart. Das Problem: Kleingeister und Geister, die von großen Konzernen kleingehalten werden, sitzen auch in Brüssel, im Rat und in den Kommissionen, legitimiert zu Unsinnigkeiten wie Abschaffung der Gurkenkrümmung und der Glühbirnen. Menasse bricht in seinen Ausführungen eine Lanze für die tapfere Brüsseler Beamtenschaft, die stets nur das Beste für ihr Europa im Schilde führe. Mag schon sein. Doch in vielen Gesetzen offenbart sich in der Praxis eine neoliberale, asoziale und umweltschädigende Handschrift. Man hat verabsäumt, wie auch zum Teil posthum von der Hermann Hakel Gesellschaft publizierten Werken und in seinen umfangreichen Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek als einem wichtigen, noch ungehobenen Schatz zur österreichischen Nachkriegsgeschichte Einsicht zu nehmen wird durch diese Tagebücher wohl kaum jemand versucht sein. Zuletzt erschien von Hermann Hakel der Band „Von denen ich weiß. Wahrnehmungen eines Literaten“ mit einem genauen Index. Der Briefwechsel von Amanshauser mit Hakel ist bereits 2005 im Rahmen der AmanshauserWerkausgabe in der Bibliothek der Provinz erschienen. All dies erfahren die Leser der Tagebücher leider nicht. Die Tagebuchedition, die dringend eines Namensregisters bedürfte, hat keinen Herausgeber, aber das Nachwort von Martin Amanshauser enthüllt die Auswahl- und Editionskriterien. Evelyn Adunka Gerhard Amanshauser: Es wäre schön, kein Schrifisteller zu sein. Tagebücher. (Mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann und einem Nachwort von Martin Amanshauser.) St. Pölten, Salzburg, Wien: Residenz 2012. 397 S. Euro 26,90 Menasse kritisiert, Richtlinien zu einer gemeinsamen Finanz- und Fiskalpolitik festzulegen. Nicht die Völker Europas entscheiden, sondern ein seit dem Zusammenbruch einer sozialistischen Alternative entfesselter Kapitalismus, der Einfluss zu nehmen versteht mit allen Mitteln, zu denen auch der Lobbyismus zählt, von dem uns gesagt wird, dass er a priori nicht schlecht sei, da ja jede Gruppierung die Möglichkeit habe, die Gesetzgebung zu beeinflussen. Letztendlich bestimmen jedoch jene Kräfte, welche die besten und meisten Lobbyisten finanzieren können, also über das meiste Kapital verfügen. Zu nicht wenigen wirtschaftlichen Richtlinien der EU gilt es Kritisches anzumerken: Liberalisierung der Dienstleistungen — am Beispiel der „Post“ in Österreich. Eine Folge war die Schließung Hunderter Postämter, dadurch die Zerstörung von Infrastruktur auf dem Lande und in Stadtteilen, Druck auf die Postbediensteten, vor allem Zusteller, deren Rayone immer größer werden, immer mehr Adressen beinhalten, gleichzeitig macht der Konzern schöne Gewinne, die den Aktionären, nicht aber Investitionen zu Gute kommen. An diesem Beispiel vermag jeder sehen, wie das eingeschlagene und favorisierte System funktioniert: Das Management könnte ja auch dem Gemeinwohl verpflichtet sein, mehr Zusteller einstellen, und man hätte die Postämter nicht schließen, sondern deren April 2013 59