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Dimension einer grandiosen Landschaft, die mit einer Abfolge von „Erinnerungsorten“ an nationalsozialistische Endphaseverbrechen schwer belastet ist, wie es der bekannte Protagonist der Erinnerungsarbeit, der Klagenfurter Universitätsprofessor und Erziehungswissenschafter Peter Gstettner, in seinem Beitrag formuliert, an einem Kulminationspunkt der Gewalt evident. Die wenigen Spuren der literarischen Rezeption der nationalsozialistischen Endzeit nimmt der Schriftsteller und Germanist Christian Teissl auf und fördert damit zu Unrecht Vergessenes wie die Anthologie „Der Eisstoß“ zutage. Sie enthält u.a. einen Beitrag Bertrand Alfred Eggers, der 1944 aus der Wehrmacht desertiert war. Unkonventionelle Zugänge zum Erinnern und Nicht-Erinnern, die komplexe Zusammenhänge wie den Generationenkonflikt oder die Grenzen pädagogischer Vermittlungskonzeptionen thematisieren, legt der Beitrag des 2005 verstorbenen Universitätsdozenten Hans Georg Zilian offen, der auf „rationalen Diskurs, das stichhaltige Argument und das empirische Beweismaterial“ zur Überwindung dieser Grenzen setzt. „Handlungsräume“ stellt ein weiteres Buchkapitel in den Mittelpunkt. Darin vermittelt Klaus Orttomeyer, Psychologe, Psychotherapeut, Sozialwissenschafter und Professor an der Universität Klagenfurt, am Beispiel des Todesmarsches und des Partisanenwiderstands wichtige sozialpsychologische Einblicke in Gehorsamsbereitschaft und Menschlichkeit, indem er Erklärungsmodelle wie jene der „shifting baselines“, die den vorangegangenen Prozess der Entrechtung und Wein und Wahrheit Erniedrigung der jüdischen Bevölkerung und der Zurichtung als Opfer beschreiben, oder der Gegensätzlichkeit menschlicher „Ego-States“, die gleichzeitig zivilisiert und sadistisch sein können, oder das Konstrukt der Täter-OpferUmkehr, das Täter und Wegschauer über ein konsequentes Gewissen hinwegtäuschen soll, heranzieht. In einem vom Co-Herausgeber Christian Ehetreiber geführten Gespräch über menschliches Handeln unter Zwangsbedingungen stellt der Ethikprofessor Kurt Remele erzieherischbildnerische, psychologisch-psychotherapeutische und religiös-spirituelle Bemühungen um Bewusstseinsbildung und Verbesserung des oder der Einzelnen in den Vordergrund, während der Grazer Universitätsprofessor für Philosophie und Rechtsphilosophie Peter Strasser von der fortgesetzten menschlichen Verführungsbereitschaft überzeugt ist und die Vermeidung jener Situationen und Strukturen fordert, die sie als Rahmenbedingungen auslösen („Und führe uns nicht in Versuchung...“). Die Herausgeber des Buches, das sich weder als „Schlusspunkt, noch Schlussstrich unter die vielen Gedenkaktivitäten der Region, sondern als ein weiterer Meilenstein“ versteht, appellieren im ungebrochenen Geist der Aufklärung wider die Resignation der Erinnerungsarbeit und liefern Anleitungen, wie Erinnerung lebendig bleiben und über kleine Randgruppen hinauskommen kann. Dazu gehören das Sichtbarmachen individueller Opfer und Täter, das Aufzeigen von menschlichen Handlungsspielraumen, die vom Verstecken von Partisanen durch die schwangere Steirerin Milli Deutsch (Milli Deutsch, Hauptmanns vor einigen Monaten begangener 150. Geburtstag brachte dem ganzen deutschen Sprachraum die Wiederbegegnung mit einem Dichter, dessen handfeste Tragikomödien wie Biberpelz oder Die Ratten das Theater noch nicht entbehren kann, während sich die peinliche Tragödie aus Vor Sonnenuntergang beinahe täglich wiederholt. Auch die Wissenschaft hat die Akte Hauptmann noch nicht geschlossen. Professor Sprengel, Berlin, überrascht mit einer neuen 800-Seiten-Biographie, und sein Schüler Bernhard Tempel entdeckt den Aspekt Alkohol in diesem exemplarischen Dichterleben des 20. Jahrhunderts. Als Sohn eines Gastwirts hatte der junge Gerhart Hauptmann mehr Gelegenheit als ihm lieb war, die verschiedenen Typen des Irinkers kennen zu lernen, und der Zufall wollte es, dass sein Jugendfreund Ploetz schon 1904, also lange vor Hitler, zum Wortfiihrer einer auf Erbgesundheit abzielenden Abstinenz-Bewegung wurde. Er tritt denn auch schon in Hauptmanns Skandalstück Vor Sonnenaufgang auf und wird bis zu seinem Tod im Jahr 1940 in einer Dauerdiskussion mit 62 — ZWISCHENWELT dem längst zum Trinker gewordenen Dichter präsent sein. Der Kretscham, wo die schlesischen Weber ihren kargen Lohn in elenden Fusel umsetzten, ist bald aus dem Gesichtskreis Hauptmanns geschwunden, bei seinen berühmten Vigilien fehlen nicht nur die Schnäpse nicht, sondern — wie in französischen Gourmetrestaurants — auch die Zigarren. Rotweine dominieren, weil sie säurearm-wärmend die Sphären der Phantasie öffnen und die Selbstkritik dämpfen. Je älter Hauptmann wird, desto weniger ähnelt er dem alten Goethe und desto näher kommt er jenem Mijnheer Pepperkorn aus Thomas Manns Zauberberg, ein meisterliches Portrait, das Frau Margarete Hauptmann dem großen Romancier nie verzieh; dabei hatte Hauptmann selbst, etwa in dem fröhlichen Kollegen Crampton, so manchen nahen Freund als Beute des Alkohols dargestellt, treffend, mitleidslos, mit naturalistischer Verve. Um uns dies vorzuführen, kann Tempel sich auf eine einzigartige Fülle von Materialien stützen, die von dem frühverstorbenen Machatzke kommentierten Tagebücher des Dichters, die wortkargen, aber präzisen Fünfjahreshefte seiner die 2012 starb, war das Vorbild für Franzobels „Prinzessin Eisenherz“), über das Wegschauen und die Feigheit vieler bis zur exzessiven Gewalt des Eisenerzer Bergaufsehers Ludwig Krenn, der willkürlich Menschen massakrierte, reichen können, ein aktives Erinnern, das von steten Forschungszuflüssen und aktuellen inter- und transdisziplinären Erkenntnissen gespeist wird und sich nicht in Selbstreflexion erschöpft, die Zusammenarbeit zwischen unermüdlichen ProtagonistInnen von Public History Initiativen mit engagierten VertreterInnen universitärer Institutionen, die Vernetzung von Schulen, wohlmeinenden BürgerInnen und örtlichen Institutionen, und nicht zuletzt die Finanzierung. Ermöglicht wurde Projekt und Druck dieser richtungweisenden Publikation durch die Bildungsabteilung der AK Steiermark, den Alfred-Schachner-Gedächtnisfonds, das Land Steiermark, Wissenschaft, die Karl-FranzensUniversität Graz, den KZ-Verband, die Stadtgemeinden Eisenerz, Leoben und Irofaiach, den Verein Eisenstraße und den Zukunftsfonds der Republik Österreich. Helene Belndorfer Werner Anzenberger, Christian Ehetreiber, Heimo Halbrainer (Hg.): Die Eisenstraffe 1938 — 1945. NS- Terror — Widerstand — Neues Erinnern. Heimo Halbrainer: Archiv der Namen. Ein papierenes Denkmal der NS-Opfer aus dem Bezirk Leoben, Graz 2013. Zwei Bände in einem Schuber. Graz: Clio 2013. 360, 130 S. Euro 29,90 Frau, eine Überfülle von Korrespondenzen. Dies alles verwirrt Tempel nicht; er bohrt und prüft, und wenn Hauptmann durch Jahre eine Temperenzlerzeitschrift bezog, prüft Tempel, ob die Hefte aufgeschnitten wurden, die Beiträge Lesespuren aufweisen! Die Besonderheit bleibt dabei, dass der Dichter sich immer weiter von den Ideen des Jugendfreundes entfernt, auch als dieser 1936 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird und die Erbgesundheit, die Züchtung des Edelmenschen, Staatsdoktrin wird: „Es ist schon nicht mehr menschlich gedacht, wenn man dem schönen Arier die schöne Jüdin verbietet ... Würde nicht ... das höchste Resultat der Menschenzüchtung schwer enttäuschen, sich als lebens-, liebens- und zeugungsuntüchtig herausstellen ... als eine schwere Stockung durch Isolation?“ (Handschriftliche Aufzeichnung Hauptmanns am 28.2.1937). Damit beginnt, gleichsam als Nebenschauplatz, Tempels Nachweis, dass der Dichter von der im Deutschen Reich und in besetzten Gebieten wie Österreich und dem Protektorat mit Tausenden von Morden angelaufenen Euthanasie wusste, die aufgrund der mannhaften Proteste