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30. Jg. Nr. la Nadelstiche Siglinde Bolbecher, Historikerin und Exilforscherin und fast dreißig Jahre lang auch Herausgeberin der Zeitschrift „Zwischenwelt“, schrieb Gedichte, von denen nur wenige in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind. Es sind Verse von großer Eindringlichkeit und Direktheit, die nicht verloren gehen sollen. Nach Siglindes Tod am 6. Juli 2012 haben wir beschlossen, ihre Gedichte an den Anfang einer neuen Lyrikreihe im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft zu stellen. Für das Projekt haben wir um Spenden gebeten — über 6.500 Euro wurden gespendet. Als HerausgeberInnen der Reihe haben sich Alexander Emanuely, Konstantin Kaiser, Lydia Mischkulnig und Herbert Staud zur Verfügung gestellt. Geplant sind zwei bis drei Bände im Jahr. Immer noch gilt es, AutorInnen des Exils erstmals zu sammeln und zu veröffentlichen. Ihre Schriften sind nicht nur vom leidigen Vergessen, sondern oft auch von schlichter Vernichtung bedroht. Die Reihe soll aber auch offen sein für Literatur der Gegenwart und sich nicht auf originär Deutschsprachiges beschränken. Siglinde Bolbecher lernte bei ihrer Studienreise nach Bogotä 1993 die aus Wien geflüchtete Trude Krakauer kennen und veröffentlichte einige von deren Gedichten 1994 in „Mit der Ziehharmonika“ (wie „Zwischenwelt“ bis 2000 hieß). Diese Gedichte hatten etwas Grandioses an sich, eine Souveränität der Klage und Anklage, doch schien es lange Zeit, daß das Überlieferte nie einen Ulrich Becher Graz, vor dem 10. Juli 1934 Lieber Vater! Ich fürchte, Ihr begeht mit der Rückkehr nach Deutschland einen großen Fehler. Es ist selbstverständlich nicht anzunehmen, daß Dir erwas geschieht. Doch bei der immer wieder sich vollkommenen Willkürherrschaft braucht Dich nur ein geärgerter Prozeßgegner, den Du vor Jahren besiegt hast und der jetzt, wie viele heruntergekommene Individuen, irgendeine einflußreiche Stellung innehat, zu denunzieren — um unsere Familie zu ruinieren. Es ist doch klar, daß wenn Dir etwas passiert, ich nach Deutschland kommen werde, alle Hebel in Bewegung setzen werde, um Dich heraus zu bekommen und nicht garantieren möchte, ob ich mich dabei beherrschen kann. Und daß wir beide unsere Tage in K.lagern [Konzentrationslagern] verbringen, stelle ich mir nicht besonders ideal vor. Lieber an einem schönen See. Darauf wirst Du mir leichtfertige Beurteilung unserer Verhältnisse vorwerfen, Pflichten, die Dich rufen, Rücksicht gegen den Sozius. Finden sich denn nicht tausend Auswege? Sind das Argumente Euro 2,- SFr 3,Gedichtband füllen könne. Nun aber sind dank der Bemühungen von Silvia Belalcäzar und Anita Weiss viele weitere Gedichte Krakauers aufgefunden worden. So ist es nun möglich, das Werk der von Siglinde entdeckten Autorin zusammen mit Siglindes eigenem lyrischen Werk vorzustellen. Die im Februar 2012 in Krakau verstorbene Wistawa Szymborska bietet in „An mein Gedicht“ ihren Versen verschiedene Auswege an: aufmerksam gelesen oder bloß durchgelesen zu werden, im Papierkorb zu landen oder gar nicht geschrieben zu werden - „... verschwindest ungeschrieben/ und murmelst zufrieden vor dich hin.“ Die Dichterin weiß, es gibt dieses ungeschriebene Gedicht, das einem auf der Zunge lag und dessen Augenblick nicht kam. Doch Gedichte, deren Augenblick gekommen war, die sich als ein rebellischer „Nadelstich“ gegen Verstummen und Anonymisierung auflehnten, müssen erhalten bleiben. Die Götter und Göttinnen haben es leicht, sie können in Gedanken versunken das Wesen der Menschenseele enträtseln und über Wege, sie zu retten, nachdenken. Wir Menschen sind uns da ferner und näher. Das schrieb Siglinde als Anmerkung zu einem Gedicht. Möglicherweise erfahren wir nur aus Gedichten von jener Ferne und zugleich Nähe, in der wir uns bewegen. Theodor Kramer Gesellschaft den Tatsachen gegenüber, daß laut Wiener Zeitungen in den Lagern bisher 300 Todesfälle vorkamen und die Angehörigen erst davon benachrichtigt wurden, als die Beisetzung bereits erfolgt war? Mehrere aufschlußreiche Berichte über die Mißhandlungen der Verhafteten gibt der doch ganz objektive Knickerbocker’, ich schicke sie Dir gern. Den Bruder unseres Arztes Mühsam? haben sie so verhauen, daß er, als sein Bruder ihn besuchen wollte, noch immer bewußtlos war. Ich schreibe Dir das, nicht weil ich glaube, daß Dir, einem völlig Unpolitischen, in dieser Weise mitgespielt werden könnte, das glaube ich keinesfalls, aber ich meine, daß es ganz allgemein unsinnig ist, in ein Land, in dem solche Zustände herrschen, zurückzukehren. Die Angelegenheiten Deiner emigrierten Klienten kannst Du sicher vom Ausland erledigen, die im Inland verbliebenen werden wohl oder übel zu den Nazis abwandern, für die sechs Wochen, die sich Schidwi? erholen muß, lassen sich anderweitige Vertreter finden, davon bin ich überzeugt. Manchmal glaube ich, daß Ihr nur deshalb