OCR
einen flüchtigen Augenblick, denn er merkte bald, dass er immer noch ganz woanders war als auf einer Triester Straße. „Sie beschlossen, mich taufen zu müssen“, sagte er dann. „Mein Vater war ein bedeutender Befehlshaber in den Bergen gewesen, und auch mein Verweilen in dem Graben war schon zur Legende geworden; so versammelten sich zu der Feierlichkeit ziemlich viele Offiziere. Die Zeremonie wurde somit sehr feierlich, nur leider nahm das Ganze ein jähes Ende. Auf’der italienischen Seite hatte man gewittert, dass sich etwas Besonderes anbahnt, und sie fingen an, Eisen in den kleinen Bergkessel zu streuen, wo ich zum Christen erhoben wurde. So mussten wegen mir einige Leute vorzeitig zum Schöpfer.“ Jetzt endlich beruhigten sich seine Augen, er warf uns nicht mehr vor, ihn mit ungenügender Begeisterung an die IsonzoFront zu begleiten; er akzeptierte uns als seine Bekannten in der jetzigen Stadt, auf dem Gehsteig, zehn Schritte vom Acquedotto. „Auf jeden Fall sollten Sie schreiben“, beteuerte ich. „Der Befehlshaber der Isonzo-Front selbst war mein Taufpate.“ Das erzählte er aber jetzt in einem ganz anderen Ton, der Stimme nach war er jetzt wieder ein angesehener Stadtbewohner, der Inhaber eines schönen Ladens. »Borojevic hatte sein Hauptquartier in Postojna“, sagte Peric als Liebhaber von Geschichtsbüchern. „Sie sollten schreiben“, sagte ich nochmals. Doch Herr Antonic winkte erneut ab; seine Augen waren schon wieder ungeduldig, doch gleichzeitig auch angriffslustig. Eigentlich war es schon die ganze Zeit so, als würden seine Augen eigenmächtig agieren, ohne sich nach dem zu richten, was er erzählte. „Eines Tages“, sagte er, „es waren seitdem schon einige Jahre vergangen, schloss ich meinen Laden und ging heim. Unterwegs las ich die Zeitung, wie gewöhnlich, weswegen ich auf dem Gehsteig stehen blieb. Als ich aber an einem Mäuerchen stand und versuchte, den Artikel zu Ende zu lesen, merkte ich, dass mich jemand beobachtete. An das Mäuerchen gelehnt, ruhte sich ein welkes Männchen aus, das ich selbstverständlich nicht kannte, dessen Blick mich aber unerwartet beunruhigte. ‚Verzeihen Sie‘, Vladimir Vertlib sagte der Alte, ‚sind Sie nicht vielleicht an der Isonzo-Front gewesen?‘ Können Sie sich das vorstellen? Er hatte die Gesichtszüge jenes Kindes erkannt. Und was tat ich, was glauben Sie? ‚Selbstverständlich bin ich dort gewesen‘, sagte ich, doch noch im selben Moment bin ich auf dem Gehsteig schnell weitergeschritten, und ich musste mich zurückhalten, nicht davonzurennen.“ Auch jetzt, als er uns das anvertraut hatte, verabschiedete sich Herr Antoni£ ganz schnell, so dass Peric und ich unerwartet für uns allein blieben, genauso wie wir vorher, vor dieser ungewöhnlichen Beichte, für uns allein gewesen waren. So war es eigentlich eigenartig, dass er sich uns anvertraut hat, wo er vor dem Alten weggelaufen war, dem chemaligen Soldaten, der ihm bestimmt noch mehr über die Bewohner des Schützengrabens irgendwo am Isonzo hätte erzählen können. Aber wahrscheinlich musste er sich für das Weglaufen revanchieren, indem er vor uns sein Geheimnis lüftete. Seine Beichte war jedoch gleichzeitig auch eine Art Exorzismus. Wer kann wissen, wie solche Nachklänge und Erwiderungen im Inneren eines Menschen ineinander fließen? Nun aber, darüber nachdenkend, glaube ich zu verstehen, warum er mich am Nachmittag gemieden hat. Er verhielt sich zu mir genauso wie zu dem Alten, der wie eine Erscheinung, die schlafenden Ängste in ihm aufzuwecken, auf ihn gewartet hatte. Bei all diesem vergangenen, halbvergangenen und noch bestehenden Übel stelle ich aber fest, dass der Mensch schon alle möglichen monströsen Wahnbilder in sich aufgenommen hat, dass er sie zwar mit seinen Worten ablehnt, doch in Wirklichkeit als eine unvermeidliche Tatsache akzeptiert. Und der lebenslustige Enthusiasmus des heutigen Menschen entspringt wahrscheinlich gerade der unbewussten Überzeugung, dass er dem Übel nicht entfliehen kann, so wie mein Bekannter vor dem Zeugen geflohen ist, der über den Helm mit den Menschenohren Bescheid wusste. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Kitab Verlages aus Boris Pahors Buch „Blumen für einen Aussätzigen. Slowenische Novellen aus Triest“, Klagenfurt, Wien 2004. Der Schriftsteller David Bezmozgis, am 2. Juni 1973 als Sohn jüdischer Eltern in Riga geboren, kam im Alter von acht Jahren mit seiner Familie als Immigrant nach Kanada. Das kommunistische Regime und seine antisemitische Politik zwangen seine Eltern, so wie viele andere Juden auch, zur Emigration. Bezmozgis studierte englische Literatur an der renommierten MeGill University in Montreal und Kinematografie an der University of Southern California. Der heute in Boston lebende Autor machte sich als Filmemacher, vor allem aber als Erzähler einen Namen. In seinem Erzählband „Natascha“ werden Episoden aus dem Leben der aus Lettland stammenden jüdischen Familie Berman beschrieben, die sich in Kanada ein neues Leben aufbaut... Bezmozgis gilt zurecht als einer der besten englischsprachigen Autoren der Gegenwart. Seine Prosa ist hintergründig, poetisch und gut lesbar. Dies gilt im besonderen Maße für „Die freie Welt“ — seinen 2011 erschienenen ersten Roman, von dem hier nun die Rede sein soll. Der Autor beschreibt das Schicksal einer jüdischen Großfamilie, die 1978 aus der damals sowjetischen Stadt Riga auswandert und in Rom - in jenen Jahren Drehscheibe der russisch-jüdischen Emigration für alle, die nicht nach Israel wollten — auf die Weiterreise nach Kanada wartet. Die Familie Krasnansky besteht aus drei Generationen, dem Großvater Samuel und seiner Frau Emma, deren beiden Söhnen Karl und Alec, ihren Ehefrauen Rosa und Polina sowie Rosa und Karls Söhnen, die noch im Kindesalter sind. Die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder zueinander sind komplex und bilden einen wesentlichen Aspekt des Romans. Alec beschließt auszuwandern, nachdem sein Bruder dies für sich und seine Familie entschieden hat. Vater Samuel reist mit seinen Söhnen, obwohl er als Parteimitglied und angesehener September 2013 15