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Nachts Nachts kann ich mich nicht verlieren. Ich sinke in die Dunkelheit. Wenn die Dämmerung kommt, warten sie schon auf mich, stehen vor mir, und Gesichter haben sie, nicht gestorbene, und Augen, lebendige wie damals, als wir zu fünft das Manifest gelesen haben, als wir die Welt in ihrer Verwicklung auf unsere Schultern nehmen wollten. Sie sind nicht angekommen. Und ich, bin ich angekommen? Ich stehe für sie, für die Erstickten, für die Erwürgten durch das Gas in der Kammer, für die Ertränkten im grünen Wasser im Meer vor Stutthof, für die, die die Welt hätten ändern sollen und verenden mußten, für die Vergessenen, verklumpt zu sechs Millionen. Nachts kann ich nirgendwohin weglaufen. Lange bis zum Morgen stehen sie über mir: Du bist davongekommen, du stehst für uns. Du sollst unsere Träume weitertragen, solange dein Atem reicht. Sag, wer du bist, sag, was du tust. Sag, wie du kämpfst. Wo hast du uns verloren? Wo hast du uns zurückgelassen? Wohin willst du weglaufen? Was von uns was für uns hast du der Erde, den Menschen gegeben? Nachts kann ich nicht in der Dunkelheit wegschwimmen. Das Ruder des Traums ist gebrochen. Ich bin geblieben. Ich bin dem nicht gewachsen. Entstanden 1946-47. Aus dem Polnischen von Konstantin Kaiser und Joana Asia Radzyner Neu Neu anfangen unbefleckt, unbedruckt, im Nichts. Aber es gibt keinen Anfang es gibt keinen Nullpunkt es gibt keinen Punkt. Die Vergangenheit ist untrennbar von mir wie mein Schatten dem ich lebenslänglich ausgeliefert bin. Das traurigst Menschliche In der Partei, sagen sie, sei keine Einsamkeit. Es ist nicht wahr. Wer das sagt, lügt. Elf Jahre schon wächst eine Kruste um mich in der Partei. Bald werde ich zu Stein verwandelt sein. Auch anderswo, sagen sie, sei keine Einsamkeit. Es ist nicht wahr. Unter allen Sonnen und zu jeder Zeit kommt man allein zur Welt und bleibt allein bis ans Ende. In der Familie, sagen sie, sei keine Einsamkeit. Es ist nicht wahr. Der Mann geht seiner Wege, das Kind sucht für sich selber seinen Pfad. Unter Menschen, sagen sie, gäbe es keine Einsamkeit. Und es ist nicht wahr. Gerade in der Masse ist es am schlimmsten. Keiner fühlt den Schmerz des andern. Jeder trägt seinen Schmerz allein. Die Einsamkeit, sagen sie, sei bourgeoise Empfindung. Mag sein. Kann sein. Ich widerspreche ja nicht. Die Einsamkeit ist das Mal des Kain, das traurigst Menschliche. Entstanden vermutlich 1956. Aus dem Polnischen von J.A. Radzyner und K. Kaiser September 2013 21