OCR
Eltern, Großeltern und vielleicht sogar der Urgroßeltern von Anfang an selbst davon umgeben ist und so schon mitten drin steckt, bevor es sich dessen oder gar seiner selbst bewusst werden kann. Zudem wächst die Familiengeschichte, indem das Kind sie selbst fortschreibt, durch mündliche Überlieferung in die eigene hinein und gibt ihr damit eine nicht abzuschüttelnde Vorvergangenheit. Die meine habe ich in großem Ausmaß kennen gelernt. Die Bedeutung jener Erfahrungen, die mit mir geteilt wurden und Manfred Wieninger Der Weiße Hai in St. Pölten Natürlich konnte ich mir nur die zweite Reihe leisten, die billigste Reihe, Genickstarre vorprogrammiert. Die Leinwand im Pittner-Kino, das den diskreten, leicht heruntergekommenen Kino-Charme der späten fünfziger Jahre versprühte, erschien mir riesig und als der Haijäger Quint mit den Füßen voran, langsam aber sicher in das Maul, in die Jaws des Weißen Hais hineinrutschte, hatte der etwa gleichaltrige Bub am Sitz vor mir, in der ersten, genau so billigen Reihe die mitgebrachte Wodkaflasche bereits etwa zu drei Viertel geleert. Als schließlich Roy Scheider die Druckluftflasche im Maul der Bestie mit einem gezielten Gewehrschuss doch noch zur Explosion bringen konnte, dürfte die Alkbottle fast leer gewesen sein. Mitten im Abspann gingen die gnadenlos hellen Deckenlichter an, der brechend volle Kinosaal erhob sich diszipliniert, fast wie ein einziger Mann. Auch der Bursche vor mir stand wie ein Zinnsoldat auf, fiel dann allerdings wie ein Stein um, nach vorne, auf die Leinwand zu. Das Eintreffen von zwei Rettungssanitätern mit Bahre beim Ohnmächtigen ein paar Minuten später war für mich damals fast ein ebenso denkwürdiges Spektakel wie „Der Weiße Hai“ selbst. Irgendwie, so mein Eindruck nach all den Jahren, war das die Kultur, in der ich in den 70er Jahren in St. Pölten aufgewachsen bin, jedenfalls pars pro toto. Sonst gab es ja nicht viel. Außer die routiniert wie am Fließband abgespulten, goldenen und silbernen Operetten im Stadttheater und die Soft-Pornos und SpaghettiWestern in einem weiteren Kino in der südlichen Vorstadt. Ich erinnere mich auch an das alljährliche Volksfest bei der sogenannten Rennbahn, an das Bierzelt, in dem nicht nur die Original Oberkrainer und ähnliche Perlen österreichischer (Volks)Kultur dudelten, sondern auch gelegentlich offizielle Boxkämpfe in einem aus ein paar Brettern notdürftig zusammengenagelten Ring in der Zeltmitte stattfanden, von den inoffiziellen im Rest des Festzeltes und außerhalb davon ganz zu schweigen. Zum geistig-kulturellen Klima jener Jahre passte auch, dass mein — im Übrigen vorzüglicher — Geschichtsunterricht am St. Pöltner Gymnasium in der Josefstraße exakt im Jahr 1922, beim Vertrag von Rapallo endete. Dagegen wurde dem Vernehmen nach in einer Parallelklasse die „deutsche Physik“ der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre im Unterricht einer anderen Lehrkraft in den höchsten Tönen gelobt. Ein Biologieprofessor lehrte uns im letzten Jahr vor seiner Pensionierung nichts mehr über die Anatomie des Maiglöckchens und das Verhalten des Luchses und der Wildkatze, sondern rekapitulierte Stunde um Stunde nur 26 _ ZWISCHENWELT werden, muss ich für mich und meine eigene Situation immer wieder aufs Neue herausfinden. Fragen stelle ich nun auch an mich selbst. Ina Ricarda Kolck-Thudt, 1992 in Feldbach geboren, ist in Amstetten aufgewachsen. Seit 2011 studiert sie Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien und veröffentlicht gelegentlich im „Augustin“. mehr seine Erlebnisse während der Schlacht von Narvik, die ihn offenbar auch Jahrzehnte danach nicht losließen. Die Kontrapunkte waren spärlich. Mein verehrter Religionsprofessor, ein ehemaliger Wehrmachtskaplan, erzählte uns im Unterricht eines Tages unter bitteren Tränen, wie er dazu gezwungen war, einen angreifenden sowjetischen Soldaten im Nahkampf zu erschießen. Von Weinkrämpfen geschüttelt zeichnete er unendlich mühselig den eigenen Schützengraben, die Angriffslinie der sowjetischen Infanteristen und den Schusskanal seiner Waffe mit Kreide an die Schultafel. Nie zuvor und nie mehr danach ist mir so eindringlich das fünfte Gebot — Du sollst nicht töten — nahe gebracht worden. Es scheint, so kommt es mir im Rückblick vor, eine Zeit alter böser Männer gewesen zu sein. In meiner Erinnerung tauchen sie jedenfalls immer wieder auf. Ein rüstiger Greis mit Habichtsnase und dicken Krankenkassenbrillen versuchte in einer Warteschlange am Gesundheitsamt mir und weiteren Impfwilligen in einem verwickelten, gencalogischen Monolog seine angebliche Verwandtschaft über vierzehn Waldviertler Ecken und Enden mit Adolf Hider zu belegen. Seine blauroten Lippen glänzten vor Stolz. Am Hauptbahnhof spuckte ein uralter, gelbgesichtiger Mann im grünen Lodenmantel und mit grauem Filzhut quasi rituell auf eine Marmortafel mit den Namen in der NS-Zeit hingerichteter St. Pöltner Eisenbahner, nicht ohne sich zuvor sorgfältig vergewissert zu haben, dass ch genug Reisende, also Zuschauer, darunter auch ich, in der Nähe des unscheinbaren Mahnmals vorhanden waren. In der Küche der Großmutter eines Schulfreundes erzählte mir deren Nachbar, ein vierschrötiger, übergewichtig-hypertonischer Pensionist mit stolzgeschwellter Brust und breitem Grinsen, wie er im April 1945 in der Traisenau am Stattersdorf gegenüber liegenden Flussufer einen Russen, wahrscheinlich einen entflohenen, verängstigten Zwangsarbeiter, erschlagen und an Ort und Stelle verscharrt hatte. Die Synagoge in der Dr.-Karl-Renner-Promenade war geschändet, eine mit Brettern verschalte Ruine, die abgerissen werden sollte. Die Grabsteine des vergessenen Israelitischen Friedhofes am Pernerstorferplatz waren in Fundamente und Keller eingemauert worden. Am Hauptfriedhof in der Goldegger Straße lag ein unbezeichnetes Massengrab mit über 200 zu Tode gekommenen Zwangsarbeitern, Deserteuren, Plünderern und Juden, ein Stück eingeebnete Wiese ohne jeden Hinweis auf die hier verscharrten Menschen. Das, was vor 1945 geschehen war, kam im öffentlichen