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Neoromantik und Expressionismus freigemacht und wurde klassisch streng; sogar orientalische Gedichtformen wie Ghasel und Rubaj hielten Einzug. Trotz eines fehlenden Massenpublikums war Alfred Grünewald in die österreichische Literatur integriert: 1934 feierte man seinen 50. Geburtstag im Radio — sogar das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“ wurde auf ihn aufmerksam. Bemerkenswert ist, dass sich der Schreiberling nicht auf Grünewalds Homosexualität, sondern ausschließlich auf rassistische Pöbeleien beschränkte: Wir „freuen uns, daß es auch einmal verpönte Autoren geben wird“, prophezeite er drohend. Diese Prophezeiung erfüllte sich ab März 1938, dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Österreich. Grünewald versuchte, sich dem Unheil mit einer Überdosis Veronal zu entziehen. Doch seine Nachbarin vereitelte diese Absicht, so dass er am 15. März, dem Tag der Hitlerrede auf dem Heldenplatz, im Allgemeinen Krankenhaus wieder zu sich kam. 1978 schilderte Oskar Jan Tauschinski in einem Vortrag die damalige Stimmung: „Für mich sind jene Iden des März 1938 für immer mit der Erinnerung an einen überfüllten Saal des Allgemeinen Krankenhauses verbunden. Man hatte Bett an Bett geschoben, so daß die verängstigten Besucher nur gedrängt stehen konnten. Und viele dieser Betten waren vergittert, weil die darin Erwachten, die zum Weiterleben Verurteilten, sich tobend gegen das unerwünschte, nicht mehr tragbare Dasein wehrten.“'* Lina Loos, Adolf Loos’ erste Gattin, verbreitete das Gerücht, Grünewald habe sich erschossen"; noch 2002 wurde diese Legende in einer literaturhistorischen Studie als Tatsache hingestellt'°: So gründlich wird mitunter recherchiert! Der „Erschossene“ genas bald, aus wohlerwogenen Gründen blieb er zunächst in seiner Wohnung - sein Bruder Arthur war in „Schutzhaft“ genommen worden. Er beabsichtigte, in der Schweiz einen zweiten Aphorismenband herauszugeben und trug sich sogar mit dem Gedanken, ganz in die Schweiz auszuwandern. Diese Absicht wurde durch den Novemberpogrom zunichte gemacht, der ihn - zusammen mit Arthur - ins Konzentrationslager Dachau brachte. Erhalten hat sich seine Beschreibung der Zugfahrt, auf der es auch Todesfälle gab: „Mein Auge war nach den furchtbaren Schlägen ins Gesicht voller Blut. [...] In meinem Abteil wurde ein armseliger Mensch fast totgeschlagen, weil er den viehischen Satz: ‚Jehova ist ein A...loch‘ nicht wiederholen wollte, und immer wieder sagte: ‚Jehova ist mein Gott.“ Über das Leben in Dachau schrieb Grünewald den märchenartigen Roman „Tulipanien“, der leider als verschollen gelten muss. In diesem Zusammenhang ist es interessant, wie er über die NaziDiktatur und insbesondere über Hitler dachte: Als Ausbund der Dummheit, nicht etwa als ein Satan, wie sein Briefpartner Hiller ihn bezeichnete: ,,Nein, bester Freund, Beelzebub, der immerhin ein ganzer Kerl ist, darf mit dieser Null zur dritten Potenz nicht verglichen werden. Der Urgrund all dessen, was jetzt geschieht, ist die Dummheit!“"® Ein sokratischer Zug dieses an der Antike orientierten Menschen ist hier spürbar, ein Zug, der nicht nur in seinem lyrischen Spätwerk immer deutlicher hervortrat, sondern bereits 1921 in den Aphorismen über die Dummheit anklang. Im Januar 1939 wurde er mit der Auflage entlassen, schnellstmöglich das Deutsche Reich zu verlassen. Doch kein Staat wollte den beinahe 55-Jährigen aufnehmen. Seiner Wohnung und seines Vermögens beraubt, floh er daher im März nach fünfmaligem Anlauf illegal in die Schweiz,'? von da aus nach Italien, um schließlich Ende April nach Nizza zu gelangen, wo er unweit 30 ZWISCHENWELT des Hafens eine winzige Unterkunft zugewiesen bekam. Eine Anzahl österreichischer Emigranten hatte sich in Südfrankreich eingefunden; Grünewald schloss sich einem „Wiener Kreis“ um Otto Zoff an, einem Schriftsteller und Theaterintendanten, den er schon seit 1909 kannte. Der Schriftsteller Alfred Neumann und der Übersetzer Franz Fein waren ebenfalls darunter. Zudem fanden sich im Herbst seine Lieblingsschwester Jenny mit ihrer zukünftigen Schwiegertochter Ilse ein. Solche Freundeskreise sind nicht zu unterschätzen, boten sie doch neben praktischer Hilfestellung bei Behördengängen ein emotionales Rückgrat für die Emigranten. Noch 1941, als sich der Kreis um Zoff längst aufgelöst hatte — viele konnten in die USA auswandern oder waren interniert —, schloss sich Grünewald dem Romanautor Oskar von Wertheimer an, der für ihn „Heimat im Exil“ wurde.” Bereits vor Frankreichs Kriegserklärung an Deutschland hatten die Internierungen deutschsprachiger Emigranten in sogenannten „camps de rassemblement“ begonnen, die nichts anderes als oftmals wild zusammengewürfelte Konzentrationslager waren. Grünewald hatte sich Anfang September zunächst im Fort Carr in Antibes einzufinden, wo man in einem Fußballstadion ein Lager errichtete. Dort dürfte er mit Walter Hasenclever zusammengetroffen sein, der über die menschenunwürdigen Zustände seinen Roman „Die Rechtlosen“ schrieb. Bereits Anfang Oktober wurde Grünewald entlassen,”' um kurz darauf in der chemaligen Ziegelei Les Milles bei Aix-en-Provence interniert zu werden. Hier freundete er sich mit dem Maler Robert Liebknecht an, dem Sohn Karl Liebknechts. Mitte Dezember kam er wieder frei. Grünewalds Alltagsleben bestand — neben ständigen Behördengängen - in erster Linie aus dem Schreiben; wie ein Besessener verfertigte er Gedichte, Theaterstücke, eine Fabelsammlung und eine Abhandlung zur Todesstrafe. „Jawohl, ich bin schr fleißig. Nach Dachau (2 1/2 Monate) kam wieder ein großer Aufschwung“, schrieb er dem langjährigen Brieffreund Kurt Hilles,”? und stolz betonte er: „Die Leute mögen mir mit dem Schwindel ‚Ich kann mich nicht konzentrieren‘ vom Leib [bleiben]! Wer ein Zentrum hat, der findet schon hin.“”? Gutgelaunt fügte er hinzu: „Ab morgen - heute ist Sonntag — nehm ich mein Tagwerk als Literaturbeamter wieder auf. Der Chef bin ich freilich selber. Und ich bin sehr streng mit diesem Angestellten. Wenn ich den Kerl schon nicht los bekomme, soll er wenigstens was leisten.“”* Seine literarischen Arbeiten besserten die spärlichen Zuwendungen der Hilfskomitees auf: Im „Berner Bund“ sowie der Zürcher „lat“ veröffentlichte er Gedichte, in Nizza sowie in Les Milles verdiente er Geld durch Lesungen eigener und fremder Werke und Übersetzungen. Folgt man seinen eigenen Angaben, so wurde er dafür fürstlich entlohnt: „Fredo [...] hat schon fr. Vorl. [VB = eine Vorlesung in französischer Sprache] durch einen Schausp. gehabt und 500 Frs verdient.“” Die Wirklichkeit sah freilich anders aus: „Bettelarm, in einem Loch“ lebe der Dichter, schrieb Otto Zoff in sein Tagebuch, „das kein Fenster, keine Lüftung und kein Abendlicht hat. Hat nicht mehr zu essen, als was er im Komitee bekommt.“ * Diese Lebensumstände sowie die in Brüche gegangene Freundschaft zu einem jungen Emigranten waren wohl dafür verantwortlich, dass sich Grünewald im Mai 1940 eine schwere Bronchitis zuzog und ins Krankenhaus eingeliefert wurde.” Nach langer, schwerer Rekonvaleszenz muss er mitleiderregend ausgesehen haben: „Er altert noch rascher als bisher und ist vollends verstört; für längere Zeiten versinkt er in Gesellschaft in ein leidvolles Nicht-Da-Sein, wobei er greisenhaft aussieht.“ *®