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Trotz aller widrigen Umstände vervollständigte er Mitte April 1940 den bereits in Wien begonnenen Gedichtband „Der Pilger“, der neben klassischen Oden und Terzetten vor allem die Liebe zu jenem jungen Mann besingt, „eine Reihe seiner schönsten lebensbejahendsten Gedichte“: Noch weiß ich nicht, was werden soll aus zögerndem Entzücken. Die Lüfte hauchen liebevoll. Die Wiesen, die sich schmücken mit Sonnenblumen mancherlei, sind um dein Lächeln lichter. Und ob er trüb, ob fröhlich sei, sie locken deinen Dichter.’ Man merkt dem Dichter die Zähigkeit und Lebenslust an, die ihn aufrecht hielten. Jene Vorherrschaft des Traumes vor der brutalen Alltagswirklichkeit, der er bereits in seinem Frühwerk gehuldigt hatte: Hier tritt sie kraftspendend, ja lebenserhaltend auf. In gewisser Weise war das Schreiben identisch mit seinem Leben geworden. Jedoch nicht ausschließlich. Mit ironischem Hintersinn hatte er einmal gesagt: „Auf die Frage, ob ich viel auf Äußerlichkeiten gebe, lautet meine Antwort: Alles.“?! Diesem Motto folgte er auch in Nizza. Einen hellen Soemmeranzug und einen Strohhut habe er getragen, dazu einen weißen Spazierstock — wie ein Tourist muss er in dem mondänen Badeort gewirkt haben, wenn er mit Schwester und Nichte zu Spaziergängen an die Strandpromenade aufbrach. Einmal besuchten sie ein Hotel, um den Nachmittagstee zu sich zu nehmen, dort habe er sich spontan ans Klavier gesetzt und vor allen Gästen musiziert.” Hitlers Westfeldzug im Mai 1940 hatte eine erneute Internierungswelle zur Folge, so dass auch Alfred Grünewald ab Anfang Juni wieder in Les Milles einsaß. Die deutsche Einnahme von Paris erzeugte Panikstimmung im Lager. Auf Drängen der Häftlinge organisierte die Lagerkommandantur einen Eisenbahntransport Richtung Atlantik, wo die Emigranten nach Übersee oder Spanien zu entkommen trachteten. Durch ein tragisches Missverständnis erreichte dieser Transport jedoch nicht sein Ziel: Man hatte dem Bahnhofsvorstand in Bayonne zwar telegraphisch sein Eintreffen angekündigt, wurde allerdings später gewarnt, ein Zug von „boches“ sei im Anmarsch — womit jeder an deutsche Truppenteile dachte. In Wirklichkeit handelte es sich jedoch um genau diesen Transport der deutschen Flüchtlinge, so dass der Zug vor sich selbst gewarnt wurde und eiligst wieder umkehrte! Nach einem Bericht von Alfred Kantorowicz ging dieses tragikomische Ereignis als „Gespensterzug“ in die Geschichte der deutschen Emigration ein.” Die Irrfahrt endete in Nimes, wo in einem verlassenen Bauernhof namens St. Nicholas ein Notlager aus Zelten errichtet wurde; Griinewald kam daraus Ende Juli wieder frei. Bis Juni 1940 boten die Exilverlage Allert DeLange und Querido die beinahe einzigen Möglichkeiten, deutschsprachige Bücher außerhalb des Deutschen Reichs zu publizieren. Für seinen Dachau-Roman „Tulipanien“ wählte Grünewald nach einem erfolglosen Versuch bei Emil Oprecht auf Anraten Kurt Hillers den exildeutschen Verlag Editions Nouvelles Internationales (E.N.I.) des Internationalen Sozialistischen KampfBundes in Paris, der das Werk nach langem Hin und Her drucken wollte. Doch nach dem Einmarsch der deutschen Truppen zerstob auch diese Hoffnung. Mit Oprecht hatte Griinewald jedoch noch weiteren Kontakt, seinen Freund nannte er ihn sogar; im Oprecht-Archiv haben sich immerhin drei Manuskripte aus dem Exil erhalten, ein viertes dort verwahrtes Werk, die etwa 1933 geschriebene Novelle „Reseda“, wurde erstmals 2013 veröffentlicht.” 1941 schrieb Grünewald eine Sammlung von 370 Fabeln „Was da kreucht und fleucht“ - in gewisser Weise knüpfte er damit an seine früheren Balladenwerke an, wenn auch in Prosaform. 1942, in seinem letzten Lebensjahr, verfasste er die rechtsphilosophische Abhandlung „Die Todesgnade“ — ein Novum in seinem Werk, das über kurze Essays hinaus keine nichtfiktionalen Arbeiten enthält. In der „Todesgnade“ verfocht er die Idee, die Todesstrafe in lebenslange Haft zu verwandeln, darüber hinaus sollte der Verurteilte die Möglichkeit erhalten, mit staatlicher Hilfe freiwillig aus dem Leben zu scheiden. In seinem letzten Brief vom 25. August 1942, der zusammen mit diesem Manuskript an Emil Oprecht ging, kommt seine zunehmende Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zum Ausdruck: „Sollten Sie sich zu einem ‚Ja‘ entscheiden, so würde ich Sie noch um ein möglich rasches Vorgehen bitten. Meine Geschwister in New York setzen alle Hebel in Bewegung, um mich baldigst hinüberzubekommen. [...] Verzeihen Sie meine Offenheit; aber es steht so viel auf dem Spiel für mich: Wieder-aufbauen-können, Wieder-eingeordnet-sein in den Kreis der Schaffenden, Wieder-mit-den-Meinen-sein!“?? Der Brief wurde noch am Abend des 25. August abgesandt, in der Nacht zum 26. August fanden in ganz Siidfrankreich Razzien statt, um der verbleibenden jiidischen Emigranten habhaft zu werden. Leo Schmid] beschrieb Griinewalds letzte Verhaftung: „Eines Tages, im Herbst 1942, schlug auch an seine Türe jenes typische Klopfen, das wir alle, die es einmal hörten, nie vergessen werden. Eine kalte, trockene Stimme sprach das Wort, das der sinistere Epilog so vieler Emigrantenleben war: ‚Police!‘ ...“° Die Ankunft der Deportierten in Les Milles ist im Tagebuch von Israel Salzer, Großrabbiner von Marseille, festgehalten: „Das [...] beträchtlich geleerte Lager füllte sich von neuem ab Mittwoch, dem 26. August. Aus allen Departements der Region wurden ausländische Israeliten ins Lager gebracht. Alle zehn Minuten, jedenfalls aber in kurzen Abständen, kam ein Autobus aus diesem oder jenem Ort an und brachte Frauen, Männer und Kinder.“ Am 2. September 1942 wurde Grünewald vom Lager Les Milles nach Drancy bei Paris abtransportiert,” dem zentralen Auffanglager für die französischen Juden. Von diesem Tag ist eine Tagebuchnotiz aus dem Lager überliefert:”” „Dienstag, 1. September: Der Appell beginnt am Dienstag, am späten Vormittag, im Hof, wo alle Häftlinge, Kinder und Säuglinge eingeschlossen, versammelt sind. [...] In letzter Minute wurde man gewahr, daß für den Transport noch einige Personen fehlen. Man ließ ca. dreißig Personen suchen, um den Waggon aufzufüllen: Sie wurden nicht ausgewählt, sondern man hat zufällig in die Menge hineingegriffen. Um 7 Uhr morgens ließ man die Männer in Pyjamas, die Frauen in Nachthemden, von denen einige gerade ihre Morgentoilette machten, in den Hofkommen; ein Mann hatte das Gesicht nur zur Hälfte rasiert. Man trug die Leute mit Gewalt zu den Waggons. [...] Mittwoch, 2. September: Um 8 Uhr Abfahrt des Transports. Anzahl der Deportierten: 574 Männer, Frauen und Kinder.“ ®° Am 7. September verließ Grünewald das KZ Drancy im Konvoi Nr. 29° nach Auschwitz, wo er zwei Tage später ankam. Da im schlesischen Cosel und in Auschwitz nur arbeitsfähige Personen unter fünfzig Jahren September 2013 31