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Brigitte Lehmann Heinrich Steinitz wurde am 30. August 1879 im heute polnischen Bielitz als Sohn des angesehenen Arztes Dr. Gustav Steinitz und dessen Frau Hermine geboren. Der heranwachsende Heinrich Steinitz fühlte sich in der geistigen Enge der Kleinstadt zunehmend in seinen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. 1897 ging er nach Wien und begann sein Studium der Rechtswissenschaften, promovierte am 12. März 1902 zum Dr. der Rechte. 1910 legte er die Advokatenprüfung ab und wurde in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen. Zunächst war er für kurze Zeit Richter, dann Anwalt. Am 23. Dezember 1910 heiratete er Meta Wurmfeld (geb. 1890). Das Ehepaar bekam vier Kinder: Lisbeth kam 1911 zur Welt, Anna 1914, Karl Heinrich 1916 und Brigitte 1919. Geschrieben hatte Steinitz zunächst nur, um seine Erlebnisse und Gefühle zu verarbeiten. Seine Gedichte trug er im Familien- und Freundeskreis vor. Damals war es verpönt, zugleich als Jurist und Schriftsteller tätig zu sein. Also fand die erste Aufführung eines seiner dramatischen Werke, „König Drosselbart“, am 25. März 1906 durch die Madchengruppe des israelitischen Vereins „Ferienheim“ im Stadt-Iheater Bielitz ohne Namensnennung des Autors statt. Im Ersten Weltkrieg geriet Steinitz, zunächst noch kriegsbegeistert, wie seine Tagebuchnotizen zeigen, 1916 an der Ostfront in Kriegsgefangenschaft. 1918 gelang es ihm, über Schweden aus der Kriegsgefangenschaft zu flüchten. Wieder zurück in Wien, schloss er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) an. Er wurde Leiter der Sektion 2 der Hietzinger Bezirksorganisation und zum Obmann des Bezirksbildungsausschusses gewählt. Im Arbeiterrat stieg er zum führenden Gremium, dem Reichsarbeiterrat, auf. Im November 1923 wurde er vom Wiener Bürgermeister Karl Seitz in den Stadtschulrat berufen. In der sozialdemokratischen Presse publizierte er Beiträge zu Rechtsfragen. Er war eines der Gründungsmitglieder der „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“. Als Kunstmäzen führte Steinitz ein offenes Haus. Jeden Freitagabend traf sich dort ein Freundeskreis von v.a. jungen progressiven Kunstschaffenden und Intellektuellen. Ab 1934 zählten auch die in die politische Illegalitat gezwungenen SozialistInnen zu den „Freitag-Abend-Gästen“, so Käthe und Otto Leichter, Marianne und Oscar Pollak, Jacques Hannak, Frieda Nödl, Rosa Jochmann, Bruno Kreisky oder Karl Hans und Erna Sailer. Meta Steinitz leitete bis 1934 eine Arbeiterbücherei in Hietzing. 1934 erwarb Steinitz gemeinsam mit Rudolf Neuhaus und Dr. Schmelz die Buchhandlung „Bukum“ im 1. Bezirk, Bauernmarkt 3, seine Frau Meta übernahm die Leitung. Die Buchhandlung wurde für einige Monate ein wichtiger konspirativer Treffpunkt für die Revolutionären Sozialisten. Neben seinem beruflichen und politischen Engagement schrieb Steinitz Gedichte, die er in seinem „Lyrischen Tagebuch“ handschriftlich festhielt. Er verfasste Sprechchorwerke für Massenfestspiele und eine Kleist-Erzählung unter dem Titel „Der Kampf um Guiskard“. 1933 wurde der von Steinitz für den 20. Todestag (13.8.1913) von August Bebel verfasste Hymnus „Das Spiel um August Bebel“ mit mehr als tausend Mitwirkenden aufgeführt. Seine einzige selbständige literarische Publikation ist ein Roman über den Bildhauer und Bildschnitzer Tilmann Riemenschneider, der im Bauernkrieg 1525 offen für die aufständischen Bauern eintrat, wofür er bitter bezahlen musste. Er wurde gefoltert, eingekerkert und büßte Ämter und Vermögen ein. Der Wiener Verleger Herbert Reichner, der damals auch die Bücher von Stefan Zweig verlegte, brachte den Roman 1936 unter dem Titel „Tilman Riemenschneider in deutschen Bauernkrieg“ heraus. Er erschien unter dem Pseudonym Karl Heinrich Stein, da er sonst im NS-Deutschland nicht verkäuflich gewesen wäre. Das Buch erhielt hymnische Kritiken, sogar vom Zentralorgan der NSDAP Wenige Jahre später, als jüdischer Häftling in Buchenwald, wird Steinitz sein Buch in der Lagerbibliothek vorfinden. Nach der Zerschlagung der SDAP im Februar 1934 wurde Steinitz zum wichtigsten Rechtsbeistand der angeklagten Sozialisten. Beim Großen Sozialistenprozess 1936 verteidigte er Karl Hans Sailer, Johann Kratky, Lily Fulda und Josef Wacke. Seine Wohnung im ersten Stock einer Villa in Hietzing, St.Veit-Gasse 7, wurde zu einem Treffpunkt des sozialistischen Widerstandes. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurde Steinitz am 14. März 1938 von der Gestapo verhaftet und am 25. Mai ins KZ Dachau verschleppt. Am 10. Oktober 1938 wurde er in das KZ Buchenwald gebracht, am 20. Oktober 1942 nach Auschwitz. Steinitz’ Mitgefangene Jacques Hannak und Erich Fein berichten, dass er in Dachau und Buchenwald noch Gedichte verfasst hat. Benedikt Kautsky erinnert sich, dass der 63jahrige Steinitz bei der Ankunft in Auschwitz zu denen gehörte, die am selben Nachmittag nach Birkenau marschieren mussten, wo sie ermordet wurden. (Zum Todesdatum existieren verschiedene Angaben; wahrscheinlich war es der 7. November 1942.) Steinitz‘ Mutter Hermine wurde 84jährig am 20. August 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert und in Treblinka ermordet. Meta Steinitz konnte 1938 in die Schweiz flüchten. Nach ihrer Rückkehr 1947 wurde sie Mitarbeiterin der Wiener Städtischen Bücherei. Sie starb 1974. Auch den vier Kindern gelang die Flucht. Ein Gemeindebau in Wien-Hietzing, Auhofstraße 6, wurde 1955 nach ihm benannt. Eine dort angebrachte Gedenktafel würdigt ihn als „Anwalt vieler Verfolgter“. Literaturhinweis: Christina Pal: Heinrich Steinitz - Anwalt und Poet. Eine Biographie. Wien: Mandelbaum Verlag 2006. DU BLUT DER BRÜDER, das die feilen Lampen Vergeudeten, als wär es eitel Wasser, das man zum Spiel verrinnen lässt aus Pumpen, wir schwören Dir: Wir bleiben treue Hasser. Ihr Opfer von den Galgen kalt geschnitten, noch eingestriemt den rauhen Strick im Nacken, September 2013 33