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Alfred Wickenburg: Portrait Mela Hartwig. Öl auf Leinwand, Velden am Wörthersee 1993. (Henriette Gorton-Wickenburg) Tempel brennt“ gaben, als eine Ausstellung gegen das Vergessen; gegen das Vergessen von dem, was vor 75 Jahren geschah — und eine Ausstellung gegen das Vergessen von Mela Hartwig. Die gebürtige Wienerin, die als Schauspielerin reüssierte, kam 1921 mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Robert Spira, nach Graz. Hier begann sie mit jener spitzen Feder zu schreiben, die für ihre Prosa wie auch für einen Teil ihrer Lyrik so charakteristisch ist. In dem Gedicht „Kleinstadt“ aus dem Jahre 1924 nimmt sie wohl Graz aufs Korn, das ihr, nach dem Aufenthalt in Berlin, der Metropole der expressionistischen Moderne, als ein Provinznest erschien: Kleinstadt Stadt der Fäulnis, Stadt der Toten, selbst das Sterben scheint verboten, Trägheit wird zur Konsequenz. Manche scheinen noch Perücken, Lanze, Zopf, Barett zu zücken, Mittelalter zur Potenz. Fratzen, Masken, Marionetten, Neugier nagt sie zu Skeletten, Geier, Neugier, Kleinstadt, Aas. Aber manchmal kribbelt lüstern Weltgeschichte in den Nüstern Und es stürmt im Wasserglas. 1929 hatte Mela Hartwig mit dem Roman „Das Weib ist ein Nichts“ einen großen Erfolg. Hinter dem provokanten Titel, der den Tagebüchern Friedrich Hebbels entnommen ist [...], verbirgt sich ein eigentümlicher, fiebriger Roman: die Protagonistin Bibiana geht durch die Hände verschiedener Männer, die sie jeweils völlig neu formen, die ihr jedes 40 ZWISCHENWELT Mal eine vollständig andere Identität verleihen, vom Namen bis zu ihrem Auftreten. In vollkommener Passivität nimmt sie diese unterschiedlichen Schicksale an. [...] Seine Kraft zeigt dieser noch ganz im expressionistischen Gestus geschriebene Roman auch darin, wie fruchtbar er für die zeitgenössische Theoriediskussion zur GenderFrage noch immer ist [...] So zu lesen auf dem Klappentext des im Grazer Literaturverlag Droschl 2002 wieder aufgelegten Buches. Ihr Erfolg währte nicht lang. Im deutschsprachigen Raum wurde Hartwig von der bürgerlichen Kritik zunehmend sowohl wegen der Thematik als auch aufgrund ihrer ekstatisch-expressionistischen Sprache als anstößig abgewertet. Von scheußlichen „Wunsch- und Wahn-Erotika eines durch Psychoanalyse verjauchten Gehirns“ war die Rede. Und bald erachtete Hartwigs Verlag, „dass das Weltbild des deutschen Lesepublikums und besonders der deutschen Frau heute ein anderes ist als die Lebensanschauung, die aus Ihrem [Hartwigs] Werk spricht.“ Hartwig musste schmerzlich erkennen, dass es ihr unmöglich gemacht wurde, mit ihren literarischen Arbeiten das Publikum zu erreichen. Und so lenkte sie ihre Kreativität in andere Bahnen. Sie wurde als Mela Spira Malerin. Alfred Wickenburg, der Maler und Freund des Ehepaares — damals von der bürgerlichen Presse als Avantgardist angegriffen — wurde ihr Lehrer. Es kam das Jahr 1938 mit dem „Anschluss“. „Das Denken ist von den Nazis ausgetrieben worden“, sagte Elfriede Jelinek in einem Interview (Kleine Zeitung, 11. 3. 2012), und in der Tat brachte der Nationalsozialismus eine Vertreibung des Geistigen aus Österreich. Auch Mela Hartwig und ihr Mann wurden vertrieben. Für sie wurde das Jahr 1938 zum großen Bruch in ihrem Leben. Nun müssen wir von allem scheiden, was Kindheit uns und Wachstum war. Wir sollen selbst die Sprache meiden, die unserer Herzen Wort gebar. So heißt es in Berthold Viertels Gedicht „Auswanderer“, und Carl Zuckmayer, selbst Emigrant, analysierte: Emigration ist eine Reise ohne Wiederkehr. Wer sie antritt und von der Heimat träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren — aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er ist selbst nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, zu Menschen, die er entbehren musste, zu Stätten, die er liebte und nicht vergafs, in den Bereich der Sprache, die seine eigene ist. Aber er kehrt niemals heim. Nach zehn Jahren in London kam das Ehepaar Spira wieder nach Österreich. Dies gestaltete sich in der Art, wie es auch Hilde Spiel schildert: Spiel, aus England zurück in Wien, betritt das „Cafe Herrenhof“. Der Oberkellner Hnatek erkennt sie, ist von Mitleid mit sich selbst ergriffen, hebt an, sein Schicksal und das Schicksal Wiens zu bejammern, dessen Staub die Emigrantin so erfolgreich von ihren Schuhen geschüttelt hat. „Die Frau Doktor haben gut daran getan, dass Sie fort sind. Allein die Luftangriffe — dreimal haben sie die ganze Stadt in Brand gesteckt“, meint Oberkellner Hnatck.