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von Gedichten an den Bläschke Verlag, die 1978 in „Die wir übrig sind“ erschienen. Beide Verlage sind eingegangen. Und weiter: Seit 1948 wohne ich in Leeds, es ist eine Industriestadt, nicht schöner und nicht häflicher als andere Indusiriestädte in England (hat nicht Charakter und Vergangenheit wie das granitene Aberdeen), ist bekannt für Textilerzeugnisse und Maschinenbau. Leeds hat 600.000 Einwohner, ist eine betriebsame Stadt, hat eine Universitat und technische Hochschulen, Referenz- und Leihbüchereien, Theater, und pflegt, obwohl keine Konzerthalle [vorhanden ist], rege die Musik. [...] Deutsche Konversation, deutsche Literatur gibt es hier nicht. Es leben einige deutsche und österreichische Flüchtlinge in Leeds, die sprechen aber nur ungern und mangelhaft Deutsch. Ich spreche Englisch mit ausländischem Akzent, und bin daher für Engländer eine Fremde, Distanz ist sofort spürbar. Juden, die hier wohnen, Kinder von russischen und litauischen Einwanderern, kommen mir offenherzig entgegen, aber die wenigen, die ich kenne, haben andere, hauptsächlich häusliche oder geschäftliche Interessen, sie scheinen mir, obwohl gleichaltrig, anders ‚bedingt‘. Wie schon erwähnt, lebe ich seit meiner Ankunft in England im Jahr 1939 stets in der Provinz und habe nie Kontakt zu Schrifistellern gehabt. Seit über 50 Jahren höre und spreche ich kein deutsches Wort, und das ist es, was meine Misere ausmacht. In sehr vielen (ermüdend vielen) Gedichten versuche ich die Verlassenheit des Exilierten, des nirgends, nicht einmal in der eigenen Sprache Beheimateten auszudrücken, und ich glaube, daß mir das in einigen Gedichten besser gelungen ist, als ich in einem Vortrag vorbringen könnte. Ich habe selbst, che ich Stella Rotenberg lesen hörte, lange nicht begriffen, auf welcher Spur sich ihre Gedichte bewegen, wie leicht und schlank sie sind, fragile Türme, wie aus dem Nichts entstanden, aus der Ortlosigkeit. Es gibt in diesen Gedichten keine Landschaften, keine Himmelssimmungen, nur menschliche Harald Maria Höfinger Handlungen, Gedanken und die Dinge, die die Menschen zur Vollführung ihrer Handlungen und zum Ausdruck ihrer Gedanken benötigen. Nichts bleibt außerhalb dessen. Es wird nicht diskutiert über die Zurechenbarkeit einer Schuld — denn alle Handlungen und Gedanken sind menschliche Tat. Sie tragen ihr Maß in sich, sind kenntlich. Es gibt daher auch keine moralischen Appelle an den Leser. Wenn alle Schuld kenntlich ist, bedarf es keiner moralischen Abhandlung. Seit 1940 schrieb Stella Rotenberg Gedichte. Später schrieb sie eine Reihe von Geschichten, die zunächst autobiographisch anmuten. Alle beginnen sie mit den Worten „Als meine Mutter ein Kind war...“ Sie spielen in einem Dorf, das vielleicht in Böhmen oder Mähren liegt, im Raum eines Reiches, das die Donaumonarchie sein könnte; manche Lebensumstände sind aber weiträumiger, moderner; anderes ist wieder von großer Rückständigkeit. Sie habe sich, meinte Rotenberg, eine „Art Ersatzheimat“ imaginiert. Das Dorf weist eine präzise, in sich geschlossene Topographie auf und weitet sich, Traumlandschaft, doch in plötzliche Ferne. Alles ist in sorgfältiger Perspektivierung erzählt: Immer erfährt der Leser, wer etwas gehört, gesehen, mitgeteilt hat. Werkzeuge, Pferdegeschirre, Arbeitsverhältnisse werden beschrieben. Die Genauigkeit des Aufbaus entspricht dem Bedürfnis, eine begehbare Welt zu malen, in der auch Stella Rotenberg als eines der Kinder stets anwesend ist. Dieses Kind aber bleibt unsichtbar, es handelt und spricht nicht; es ist nur dabei. Doch seine Gegenwart wird von Geschichte zu Geschichte spürbarer. Stella Rotenbergs Lyrik und Prosa stellen sich nie auf die Zehenspitzen, wollen nie dramatischer sein und größer tun, als sie sind. In der Schlichtheit ihrer Zeilen verbirgt sich ihre Kunst — die ganze Fülle der Reflexion, der Kenntnis, Übung, all der Voraussetzungen, ohne die jene Schlichtheit nicht möglich wäre. Niederhollabrunn, 18. Mai 2013 Den ganzen nächsten Tag noch hüpfte und tanzte die Klezmermusik, aus Akkordeon und Klarinette hervorsprudelnd, in meinem Kopf herum und gar mancher Vers klang mit süßer Schwere nach. Welch Wetterglück wir hatten, weder vom Weinberg noch vom Steinberg her stiegen Regenwolken auf; vielmehr wärmte die Sonne mild den Gast. An die hundert Leute hatten sich eingefunden, um dem Dichter in seinem Dorf nahe zu sein. Sie saßen auf Bänken an Heurigentischen und stärkten Leib und Seele mit kleinen Happen aus der mobilen Küche. (Der Wirt aus Streitdorf bemühte sich gemeinsam mit dem Weinbauern seines Vertrauens um die Gäste. Die süßen Mehlspeisen stammten vom Zuckerbäcker Christian Poigner, der nicht abgeneigt wäre, 44 ZWISCHENWELT das denkwürdige Anwesen mit einem kleinen Cafe zu beleben.) Drinnen im Doktorhaus, wo IhK zur Welt gekommen wa, hängen zum ersten Mal die Tafeln der Ausstellung, die leicht vergilbt erzählen, wie schwer er an seinem Leben zu tragen gehabt hatte und wie gewaltig sich seine Gedichte türmen. Der Bürgermeister Leopold Wimmer und Ernst Wolfinger haben die Ausstellung im ehemaligen Gruppenraum des Kindergartens ansehnlich eingerichtet. Sie wird dort bis in den Herbst hinein zu sehen sein. Eleonore Wolfinger betreute liebevoll den Büchertisch. Er stand mitten im Raum; ringsum luden Sessel ein, Platz zu nehmen und sich mit einem Buch anzufreunden. Wer Lust hatte, konnte dies mit einer kleinen Flasche Cider aus England tun. (Das Ehepaar Wolfinger ist im Kulturverein aktiv und seit vielen Jahren ThK zugeneigt.)