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Editorial Als ich ein Kind noch war, spielte ich in einem Planschbecken, das zu einem Heim gehörte, das nach einem gewissen Johann Orszag benannt war. Das Planschbecken lag am Rande einer in meinen Kinderaugen großen Spielwiese knapp vor einem dreiflügeligen Gebäude, in dessen einem Seitenteil der Verwalter mit seiner Familie wohnte. Der Mitteltrakt bot einem Theatersaal Platz. Im anderen Seitenflügel waren Räume für die Heimabende der verschiedenen Jugendgruppen untergebracht, so auch der „Roten Falken“. Dort lernte ich die Arbeiterlieder kennen, die fast ausnahmslos aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammten, darunter sicher auch „Die Arbeiter von Wien“ mit dem mitreißenden Refrain: So flieg, du flammende, du rote Fahne voran dem Wege, den wir ziehn. Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien. Heute befindet sich an der Stelle des Arbeiterheims, das Angehörige der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei um 1930 in ungezählten freiwilligen Arbeitsstunden erbaut hatten, ein Einkaufszentrum und ein Parkplatz. Wie im ganzen Land Tirol überhaupt erinnert hier nichts mehr daran, daß es einmal eine Arbeiterkultur gab. Die mit so viel Mühe und Idealismus errichteten bescheidenen Paläste des Volkes sind, so scheint es, Palästen des Konsums gewichen, und dies in einer Zeit, in der österreichische Briefmarken in nicht endender Folge unter Denkmalschutz gestellte Klostermauern und Kirchenfassaden abbildeten. Was Arbeiter einst erbauten — als schutzwürdig galt es nicht. Doch wer war dieser Johann Orszag, dessen Nachname so fremd in Nachkriegsohren klang? Im damals ungarischen Pressburg 1880 geboren und gelernter Buchdrucker, hatte er die Tiroler „Kinderfreunde“ und die mittlerweile stillgelegte „Erste Tiroler Arbeiterbäckerei“ (ETAB) mitbegründet und geleitet. Im Mai 1938 erhängte er sich im Dachboden der ETAB. Von einem Nationalsozialisten und Arbeitskollegen als Steuerhinterzieher denunziert, sah er für sich keine Aussicht auf Gerechtigkeit. Die Reichsfinanz hat ja auch bei der „Arisierung“ jüdischer Vermögen, u.a. durch rückwirkende Anwendung der reichsdeutschen Gesetzgebung auf österreichische Betriebe, ganze Arbeit geleistet. Johann Orszag war nicht der einzige, der dadurch in den Tod getrieben wurde. Wenden wir uns dem Verfasser der „Arbeiter von Wien“ zu. Fritz Brügel war eine der interessantesten und vielseitigsten Persönlichkeiten der österreichischen Arbeiterbewegung, Historiker, Lyriker, Publizist, Romanautor und Diplomat. (Vgl. auch Sabine Lichtenbergers und Herbert Poschs Beitrag über Brügel in ZW Nr. 4/2011). Teilnehmer an den Februarkämpfen 1934, flüchtete er in die Tschechoslowakei und wurde aus Österreich ausgebürgert. Er starb 1955 im Exil in London. Wie Orszag wurde Brügel nur 58 Jahre alt. Betrachtet man das Einkaufszentrum, das an der Stelle des Arbeiterheims steht, möchte man denken, die alte Arbeiterkultur sei dem sozialen Wandel zum Opfer gefallen. Kinderhorte sind heute allenthalben zu finden, Büchereien bieten Bildungsmöglichkeiten und Eigenheime hinreichend Raum zum Lesen und Studieren. Aus dem Internet kann man sich jede gewünschte Information 4 ZWISCHENWELT holen außer der, die man gerade braucht. Und schrumpfende Reste der alten Arbeiterkultur existieren sogar noch in dieser scheinbar allen offen stehenden, objektiven, neutralen Welt. Bedenkt man jedoch die Biographien derer, die einst das Projekt Arbeiterkultur durch ihre Tatkraft, ihren Wissenshunger, ihre theoretischen Appelle vorantrieben und begleiteten, beginnt man zu überlegen, ob Faschismus und Nationalsozialismus nicht unerheblich zur Zerstörung der Arbeiterkultur beigetragen haben -durch Umfunktionierung und Enteignung, durch Ermordung und Vertreibung der führenden Köpfe, durch Demütigung und Verführung der einst aufrecht Strebenden, durch den Terror gegen alle Intellektualität, die kritisch zu unterscheiden suchte. Die Theodor Kramer Gesellschaft bereitet deshalb für November 2014 eine Arbeitstagung zum Thema „Die Zerstörung der Arbeiterkultur durch Faschismus und Nationalsozialismus (in memoriam Herbert Exenberger)“ vor. Bei dieser Tagung geht es: 1. Um die Darstellung der Verfolgung, Mundtotmachung, Demütigung, Vertreibung und Ermordung von Akteuren der Arbeiterkultur in Überblicken und in monographischen Studien (es geht hier aber auch um Formen des Verrats und der camouflierten Weiterführung); 2. Um das Schicksal von Institutionen, Vereinen, Häusern, Bibliotheken, die im weitesten Sinne der Arbeiterkultur dienten, und ihre Restitution nach 1945; 3. Um Formen der Arbeiterkultur in der Illegalität, im Widerstand und im Exil; 4. Um immanente ‚Selbsigefährdungen‘ der Arbeiterkultur („Ornament der Massen“, Probleme des Bündnisses mit künstlerischen Avantgarde-Bewegungen, nationale Fragen, „große deutsche Kultur“/ Richard Wagner-Verehrung); 5. Die Rückkehr oder das Wiederaufireten von Akteuren der Arbeiterkultur und ihre Erfolge/Miferfolge; 6. Um das ganze Kapitel der Nachkriegsentwicklung, die Verzerrungen durch strukturellen Antisemitismus und Kalten Krieg, bzw. durch die Konstitution/Konstruktion neuer sozialer Identitäten. Die LeserInnen dieses Editorials bitten wir um Anregungen, Angebote von Referaten, kritische Einwände, Hinweise auf wichtige Gesichtspunkte (Personen, Institutionen, Ereignisse). Diese Ausgabe der ZW enthält den ersten Teil eines „Exil in Brasilien“-Schwerpunktes, herausgegeben von Johannes Kretschmer (Rio de Janeiro) in Zusammenarbeit mit der Redaktion. Der zweite Teil wird im nächsten Heft nachgereicht. Ebenso die Laudationes von Gerald Stourzh, Erhard Roy Wiehn und Konstantin Kaiser, die anläßlich des Theodor Kramer Preises für Schreiben im Widerstand und im Exil 2013 gehalten worden sind. Das dem Exil in der Tschechoslowakei gewidmete Heft wird dann als Nr. 2/2014 erscheinen, wahrend sich Nr. 3/2014 voraussichtlich dem Thema „Zerstörung der Arbeiterkultur“ widmen wird. Für das gar späte Erscheinen des vorliegenden Heftes bitte ich um Nachsicht und wünsche sre¢no novo leto. Konstantin Kaiser