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mehr als bei anderen Autoren der Verdacht zusammen, er handle darin von der Vergangenheit; „Vergangenheit“ ist aber hierzulande eine Chiffre für die Zeit des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus. Witzigerweise war dieses „in der Vergangenheit“ schon stehende Phrase, als die provisorische Regierung unter Karl Renner 1945 noch kaum gebildet und das nationalsozialistische Massenmorden noch kaum beendet war. Solche Vergangenheit entstand nicht durch das simple Verstreichen der Zeit, sondern durch das unablässige Bemühen, einen Wall zwischen der mit einem Nullpunkt kurzatmig angesetzten Gegenwart und dem gerade eben Geschehenen zu errichten. Und an diesem Verhau wurde jahrzehntelang geflickt. Wir wissen, daß unser Eiserner Vorhang vor der „Vergangenheit“ im selben Jahrzehnt löchrig wurde, als auch der andere Eiserne Vorhang demontiert worden ist. Im selben Jahrzehnt hebt auch die Wirkung von Erich Hackls Schriften an, die, wie Ruth Klüger von ihnen sagt, diese künstliche Abmauerung von dem Geschehenen niederzureißen intendieren. Aber Hackls Geschichten spielen gar nicht in der Vergangenheit, sondern sie sprechen von der Vorgeschichte, wie sie eingekapselt ist in unsere Gegenwart. So ging es in „Abschied von Sidonie“ wesentlich um das Fortbestehen der Verleugnung in Sierning bei Steyr, einer Verleugnung, die exemplarisch war für Lucas Cejpek Unterbrechung Aus einem Wörterbuch ZZ. ZZ. das ist die Zwischenzeit: Als Albert Drachs Protokoll der späten 1930er Jahre 1968 erscheint, schreibt Der Spiegel, auf Deutsch wäre dieses im Schlawiner Kanzleistil verfaßte Buch höchstens ein Broschürchen geworden: Z.Z. — das sind ziemlich zerdehnte Zeiten. Nach dem Tod seines Vaters und vor dem Anschluß Österreichs ist der Sohn, wie der namenlose Held genannt wird, nicht an Politik interessiert, sondern nur an Pornographie. Der Ständestaat bildet den Rahmen für ein Setzspiel, bei dem die Einzelteile der Frauen ohne Sinn für Proportionen aneinandergefügt werden wie die Wörter zu Schachtelsätzen, um private Amtshandlungen zu protokollieren. Ich erinnere mich an die langen Abende nach Veranstaltungen der Alten Schmiede im Gasthaus Zum grünen Anker, wo wir im Extrazimmer an einem langen Tisch gesessen sind, Autorinnen und Autoren, und der Wirt mit dem sprechenden Namen Glück — Herr Glück! — die Bestellungen aufgenommen hat, zuerst die Getränke und dann die Speisen, die selten alle gebracht wurden, weil die Küche mit so vielen Bestellungen aufeinmal überfordert war. Der grüne Anker in der Grünangergasse, den es seit 20 Jahren nicht mehr gibt, war nach der endgültigen Nazifizierung — Für Hunde und Juden verboten stand auch an besseren Innenstadtlokalen - ein Haus, das die Judenhatz nicht mitgemacht hat, wie Albert Drach schreibt: Hier konnte die Familie vor der Flucht die letzte gemeinsame Mahlzeit einnehmen. KLIWA Ich nehme die Ul, um vom Stephansplatz zum Praterstern zu kommen, wo sich U-Bahnen und S-Bahnen mit Regionalbahnen ungezählte Siernings. So geht es in der „Erzählung aus unserer Mitte“ über die Familie Salzmann um heutige, rezente, aktuelle Diskriminierung von Nachkommen der Menschen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Und in beiden Fällen geht es auch darum, die Bestrebungen von Menschen publizistisch zu unterstützen, die solche Verleugnungen und Diskriminierungen nicht hinnehmen wollen. Nein, Erich Hackl ist kein Anwalt der Vergangenheit, sondern ein Verteidiger der Gegenwart als des Ortes, der uns zum Denken und zum Handeln angewiesen ist. Sie soll kein enges Schlupfloch werden, durch das die Schuldigen entweichen und alle anderen auf eine Zukunft vertröstet werden, vor der ihnen zugleich Angst gemacht wird. Sie soll auch geographisch nicht gerade auf einen kleinen Flecken beschränkt bleiben, obwohl es immer darauf ankommt, Verantwortung für das kleinere oder größere Gemeinwesen, dem man selber angehört, zu übernehmen. All dem jedoch, das wir allzu gerne als vergangen bestehen lassen, geben wir eine Macht über uns, die wir ihm gerade absprechen wollten. Das läßt sich mit Erich Hackl erkennen. Von Erich Hackl ist im Herbst 2013 bei Diogenes neu erschienen: Dieses Buch gehört meiner Mutter. kreuzen und wo die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) zu ihrem 175-Jahrjubiläum eine Ausstellung zeigen, die zum ersten Mal die Zeit von 1938 — 1945 thematisiert, als die ÖBB Teil der Deutschen Reichsbahn waren. Als ich in der Bahnhofshalle keinen Hinweis auf die Ausstellung finde, spreche ich zwei Ordnungskräfte in orangeroten Jacken mit silbernen Querstreifen an, die auf Klappständer zeigen, auf denen ein weißer Pfeil auforangerotem Grund den Weg zur Ausstellung weist. Die Überschrift ÖBBInnovationstag macht mich stutzig, aber ich folge dem Pfeil auf Bahnsteig 4, wo in weiße Tischtücher gehüllte Stehtische stehen, zwischen denen eine rote Spielzeuglok mit zwei braunen leeren Güterwaggons im Kreis fährt. Nachdem ich eine Karte für ein Gewinnspiel bekommen habe, die ich beim Aussteigen ausgefüllt abgeben kann, steige ich in den bereitstehenden Sonderzug ein: lauter 1. Klasse-Waggons, die voll mit innovativen Projekten und interessiertem Publikum sind. Ich flüchte ins erste leere Abteil, wo ich auch gleich meine Gewinnkarte ausfülle: KLIWA, das sind die Anpassungsmaßnahmen der ÖBB-Infrastruktur an den Klimawandel, wie mir der Vertreter eines privaten Wetterdienstes erklärt, der eigens für die Bahn Prognosen entwickelt, in Konkurrenz zu den drei staatlichen Diensten, der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, dem Flug- und dem Militärwetterdienst. DIE PORTIERLOGE Es ist kurz nach fünf, als ich endlich die Jubiläumsausstellung gefunden habe, in einem neuen Verwaltungsgebäude der ÖBB gegenüber vom Bahnhof. Der Portier läßt mich hinein, obwohl eigentlich schon geschlossen ist, aber solange in den Büros gearbeitet wird, ist die Loge besetzt. Das ist Dezember 20138 11