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Das Erbe des Adels, man schickte sich an, Es fröhlich anzutreten. Freiheit und Gleichheit dem Bürgersmann, Einen Schmarrn für den Proleten. Siebzig und ein halbes Jahr Ist es dabei geblieben, Doch als der Krieg zu Ende war, Da hat man den Kaiser vertrieben. Der Kaiser war fort, das Bürgertum blieb, Zunächst noch recht bescheiden, Zwar mocht’ es den neuen Staatsbetrieb, Die Republik nicht leiden. Doch immer noch besser die Republik Als den blutrünstigen, wüsten, Den schadenfrohen Bolschewik Mit seinen Enteignungsgelüsten. Drum war das Bürgertum recht zahm, Ließ alles hübsch geschehen, Bis endlich der große Sanierer kam, Brachte die Krone zum Stehen. Erschien als der Retter in der Not, Half in der ärgsten Bedrängnis, Schoß die Unzufriedenen tot, Sperrte sie ins Gefängnis. Der Menschenverlust war nicht gering, Jedoch der Sanierer blieb Sieger, Das Proletariat nach Hause ging, Das Bürgertum war klüger. Es rüstet zur Entscheidungstat, Es ist der Herrscher im Lande, Und Deine Antwort, Proletariat, An diese Sanierungsbande? Alexander Melach Beschreibung von Schattenbildern Ich bin im Schatten meiner Eltern aufgewachsen. Wenn ich sage „Schatten“, so meine ich etwas, das am Morgen des Lebens weitreichend ist, mit zunehmendem Lebensalter schwindet, als stünde wie in der Tagesmitte auch in der Lebensmitte ein Gestirn im Zenit, dann aber wieder wächst und einen plötzlich erneut eingeholt hat. Der Schattenumriss der eigenen, schräg angestrahlten Gestalt wird dann völlig phantastisch abgebildet, und hat ebenso wenig mit einem selbst zu tun wie eine Hand mit dem Umriss eines Hundekopfes, den der Schatten einer auftauchenden zweiten Hand in einen Elch verwandelt, im nächsten Moment in einen fliegenden Adler und so fort, obwohl es der Schatten einem anders weismachen will, oder der Geschichtenerzähler, der mit dieser Illusion, von der er lebt, sein Schauspiel erdichtet. Sieh wie die rote Fahne weht, An der tausende Fäuste fassen! Wie lange wirst du dich noch, Prolet, Nach Hause schicken lassen! Die Rote Fahne, Nr. 73, 24.3.1929, 5. 8.— Mit dem „Sanierer“ ist der christlichsoziale Bundeskanzler und Moraltheologe Prälat Ignaz Seipel gemeint. Aufruf der SPÖ an die Wiener Arbeiterschaft Laßt, Genossen, euch nicht provozieren, Nein! Verschmähet die rohe Gewalt! O, Prolet! Wenn die Heimwehren marschieren, Zuck’ die Achseln und gehe spazieren, Zieh’ hinaus in den Wiener Wald. Geh’ ins Gänsehäufl baden, Geh’ nach Grinzing zum heurigen Wein... Laß die Heimwehren, sie können nicht schaden, Laß die Hahnenschwänzler allein. Heute noch ist der Spuk zerronnen: Wird es Nacht — du siehst sie nicht mehr. Sei besonnen, Genosse, besonnen, Sonst zerstörst du den Fremdenverkehr. Und vor allem: hör’ nicht auf die Parolen, Die euch Moskau verkündet hat. Willst du Beulen und Kerker dir holen? Kommt die Heimwehr — dann zeig? ihr die Sohlen, Sei ein echter Sozialdemokrat. Die Rote Fahne, Nr. 273, 17.11.1929, 5.2 Meine Eltern waren beide Dichter — Dichter und Dichterin, seit ich selbst denken und sprechen kann. Und so wie andere Eltern ihren Kindern Manieren beibringen, so wurde mir beigebracht, peinlichst genau abzuwägen, welches Wort ich wofür verwenden wollte, als wären Worte Personen, Dienstpersonal, das man zwar für seine Zwecke nach Belieben einsetzen kann, das aber zugleich mit Respekt zu behandeln sei; irgendetwas störte mich an diesem Umgang mit Worten, erst heute weiß ich, dass es die Selbstverständlichkeit war, mit der davon ausgegangen wurde, dass es überhaupt Dienstpersonal gibt. Die Zweiklassengesellschaft zwischen Worten und Menschen. Unsere Gemeindewohnung war so geschen voll Personal, über das, bei allem an die Fahnen gehefteten Respekt, dennoch von oben herab gesprochen wurde. Scharen von sorgfältig ausgesuchten Substantiven und Verben Dezember 2013 19