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Mein Bruder empfand es so wie ich — oder ich hatte es ihm nachempfunden — sodass wir beide angewidert vor der Milch saßen, deren glatte Oberfläche nach einer Weile gleichsam schartig wurde und kleine Bläschen warf: Die Milch bildete eine Haut, die dicker und kräftiger wurde, bis sie mit einem leichten Gelbstich die ganze Oberfläche bedeckte und von den Kämmen winziger Gebirge, den Rissen winziger Täler durchzogen wurde. Schon mit dem letzten Satz des Journals „Ruhm am Nachmittag“ kündigte Karl-Markus Gauß sein neues Buch an: Nach und nach werden mir Dinge einfallen, über die ich in meinem Gedächtnis lange nicht mehr verfügen konnte, und Dinge, die ich gar nicht erlebt habe und trotzdem zu den Tatsachen meines Lebens zähle. Getreulich werde ich bei meinen Erinnerungen bleiben, um mir die Kindheit, die mich ins Alter begleiten soll, zu erfinden. Kann man sich seine Kindheit erfinden, ohne eine andere, eine fremde Kindheit zu beschreiben? Bei den Erinnerungen zu bleiben, und dennoch die Grenze überschreiten, ohne abzukommen — wie weit ist das möglich? Das ist kein reiner Bericht, obwohl die Fakten ziemlich genau sind, aber meine in ihm vorkommenden Geschwister sehen die Sache wahrscheinlich ganz anders. Ich bilde mir nicht ein: „Das war meine Kindheit“, sondern versuche schon, mir schreibend ein Bild meiner Kindheit zu entwerfen, in dem ich mich selber entdecken kann — denn genau weifs ich ja nicht, wer ich war. Ich kann nur mit der ehrlichen Kraft des Erinnerns versuchen, mir eine Identität zu erschreiben. Ich gehe von den Fakten aus, von möglichst genauen Beschreibungen, aber dann nehme ich mir schon die Freiheit, sie nicht eins zu eins zu übertragen, sondern in ein bestimmtes literarisches Konzept, das ich mir vorher überlegt habe, einzubringen. Dort, wo die Fakten für sich selber sogar schwächer sind, setze ich Fiktionen ein, um die Fakten besser sprechen zu lassen. Dadurch komme ich schreibend zu dem, was für mich die Wahrheit ist, also meine Wahrheit, von der ich jetzt nicht sage, dass all meine Geschwister dieselbe haben müssen — die haben sicher einganz anderes Bild von den Eltern und von dieser Zeit. Geschichten um Geschichten legen sich so übereinander, jeder Strang erweitert den erkennbaren Bereich einer Kindheit, die einem erst fremd, dann immer vertrauter wird, je öfter das Erzählte 24 — ZWISCHENWELT wieder zum Zentrum zurückführt - einerseits die etwas versteckte Chronologie der Geschichte, von der ersten Erinnerung mit etwa drei Jahren bis in die Volksschulzeit hinein, andererseits die allmähliche Ausbildung der Sinne, und damit auch die Schärfung des Bewusstseins und der Wahrnehmung über die Jahre hinweg — bis hin zur erlangten Freiheit des selbstständigen Lesens. Wenn man ein Kindheitsbuch schreibt, gibt es zwei Gefahren: Die erste Gefahr ist, dass man sprachlich in eine Pseudonaivität hineinkommt, dass man sich anmafst, mit fünfzig Jahren in der Sprache und im Denken des Kindes schreiben zu können — das kann immer nur schief gehen, das ist immer nur eine vorgetäuschte Naivität. Die andere ist, dass man diese Kindheit sozusagen erschlägt mit dem ganzen Wissen, das man fünfzig Jahre später hat, und dass man dieses Kind dann wieder seiner eigenen Erlebnishaltigkeit enteignet und von später aus erklärt. Das eine ist objektiv falsch und das andere überflüssig. Zwischen dem muss man einen Weg finden, der aber oft nicht in der Mitte liegt. Sondern oft ein Weg ist, der über das Schreiben selbst gefunden werden kann und nicht nur über das Denken, denn was schon im Kopfzu einem Ende gedacht wurde, könne nur mit Verlusten zu Papier gebracht werden. Schriftsteller ist der, der von den Worten oder von den Sätzen ausgehend ins Nächste kommt, der beim Schreiben weiter kommt, als er vorher war. Ich schreibe nicht, weil ich so etwas Gescheites zu sagen habe, sondern, weil ich selbst etwas wissen will, und während ich schreibe, komme ich auf immer mehr Sachen drauf. Ich kann stundenlang versuchen, mich zu erinnern, trotzdem: es kommen einem die besten Erinnerungen während des Schreibens und nicht vorher. Durch die Einschränkung auf den kurzen Zeitraum ist die Beschreibung der Konventionen und sozialen Verhältnisse, vor allem der Stimmung innerhalb des Viertels und der Stadt überhaupt, um so genauer. Ich habe einzelne Kapitel Leuten in meinem Alter vorgelesen, und deren Reaktion war eigentlich hervorragend für jemanden, der schreibt — wenn sie nämlich den Text sofort als Sprungbrett nützten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen.