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an den Schulen Österreichs und Deutschlands“. Eingedenk der „Reden gegen Catilina“, seit der Monarchie schon Pflichtlektüre im staatsfrommen Lateinunterricht, war man versucht Cicero zu zitieren: „Quo usque tandem Töchterle abuteris patientia nostra?“ Johanna Wieser Der gläserne Fisch Als ich mich mit einem kräftigen Schlag der Schwanzflosse in die Tiefe stieß, bohrte sich der Haken noch weiter in mein Maul. Eine Blutwolke breitete sich aus und trübte mir die Sicht auf den Schatten, der auf der Wasseroberfläche lag. Der Schmerz strahlte auf meinen ganzen Körper aus. Die Schnur, die mich an den Schatten über mir band, ließ mich wirre Bahnen schwimmen, stets bemüht, den Druck gering zu halten. Ich war ausgeliefert. Geleitet von einer Schnur, ohne zu wissen, wer sie in der Hand hält. Es war weniger schlimm, als in einer Situation zu sein, in der ich mich hätte wehren können und daran würde scheitern können. Allein, dass ich dem Schmerz davonschwimmen wollte, hielt mich in Bewegung; den Schatten beobachten, der Schnur folgen, dem Druck nachgeben. Wieso ich den Haken sich auf einmal von mir entfernen sah, wieso sich der Haken aus meinem Maul gelöst hatte, weiß ich nicht. Vom brennenden Schmerz benommen flüchtete ich. Weg von diesem Schatten und all den anderen — sehr weit weg davon. Ich ließ mich von der Strömung treiben. Nicht nur, weil ich erschöpft war — wie hätte ich denn wissen sollen, wo ich hin sollte. Das Wasser war warm, dann wieder kalt, und oft tauchte ich aus Furcht vor diesen Schatten so tief hinunter, dass kein Licht mehr zu mir durchdrang. So verlor ich langsam das Gefühl für die Zeit. Ohne Licht war die Farbe meiner Haut nicht sichtbar, war nicht nur meine Haut, sondern war ich selbst nicht sichtbar, und ich fragte mich, ob ich dann überhaupt da sei. Wieso aber sollte ich andererseits nicht einfach hier unten bleiben, wenn Licht meine Farbe erkennbar machen würde; die Tarnung wäre dann doch keine Tarnung mehr, und wozu hatte ich sie dann überhaupt. In meinen Gedanken hatten meine Hautfarbe und die Fähigkeit, sie anzupassen, all ihre Funktionen verloren, außer der einen: dass sie mich schützen sollten vor einer weiteren Begegnung mit diesem Unbekannten. Nachdem ich jetzt aber nicht mehr nur aus Beobachtung, sondern aus eigener Erfahrung wusste, wie durchlässig mein Schutz sein konnte, glaubte ich nicht mehr daran, dass überhaupt irgendetwas wirklich sicher war. Weil sich die Tiefe der Gewässer ständig änderte, näherte ich mich immer wieder der Oberfläche und sah Schatten, von denen ich nicht wissen konnte, ob sie mir gefährlich sein würden. So wiesen sie mir wieder den Weg. Manchmal war mir, als sei es etwas Gutes, die Entscheidung nicht treffen zu müssen, in welche Richtung ich mich wenden sollte. Die Last der Verantwortung nicht tragen zu müssen. Lange Zeit traf ich auf niemanden, roch niemanden, hörte niemanden. Vor allem aber konnte ich niemanden sehen und auch niemand mich — zumindest glaubte ich das: Ich weiß nicht mehr, wann oder warum, aber auf einmal hatte ich den Eindruck, es könnte eine Möglichkeit geben, im Dunklen zu schen. Zum Glück war Töchterle nicht Gesundheitsminister. Er hätte dann möglicherweise maximale Beschränkungen der Lebenszeiten gefordert, um den Spitälern und Pflegeeinrichtungen „größere Planungssicherheit“ zu ermöglichen. Mich im Dunklen zu sehen. Vielleicht war ich nicht so unbeobachtet, wie ich gedacht hatte, und es beunruhigte mich, wie schnell und unvorhergesehen ich mich von allen Seiten verfolgt glaubte und Schatten in der Dunkelheit sah, wo es gar keine Schatten geben konnte. Trotz dieser Vorstellung von Augen, die mehr schen konnten als meine — Umrisse oder Bewegungen oder — zwang ich mich, in der Nahe des Meeresbodens zu bleiben. Jede Gegenströmung ließ mich aufschrecken, und ich befürchtete, direkt hinter mir und unter mir oder neben mir sei etwas, und ich traute mich kaum mehr, mich zu bewegen — was, wenn ich gegen etwas stieße: und ich wusste nicht, wie mich in der Dunkelheit jemand sollte schen können, aber je länger ich dort war und je länger ich allein war, desto fester glaubte ich, dass es so sein musste, und desto größer war die Überzeugung, dass es Dinge gab, von denen ich keine Ahnung hatte, und desto weniger hielt ich dem Druck stand, dem mich das aussetzte. Mein Körper verhärtete sich und spürte gleichzeitig jede kleinste Bewegung von außen. Meine Gedanken aber verhedderten sich in der übergroßen Vorstellung, wenn ich irgendetwas berührte, würde sich eine Tiefe auftun, aus der ich nie wieder herauskäme. Der Druck verstärkte sich noch durch die Dringlichkeit einer Entscheidung: oben die eine Bedrohung, unten die andere. Welche Unsicherheit war sicherer als die andere? Als hinge ich wieder an dieser Schnur, zog es mich steil hinauf zum Licht. Ich beruhigte mich langsam, als ich daran dachte, dass meine Farben jetzt wieder sichtbar sein mussten. Hier oben fand ich es lächerlich, dass ich mir eingebildet hatte, jemand würde im Dunkeln schen können. Ich war ganz offensichtlich zu lange allein gewesen. Es machte keinen Unterschied, ob ich im Licht war oder nicht — ich hatte die Orientierung verloren. Ich hatte keine Einschätzung, wie lange ich mich da unten am Meeresboden aufgehalten hatte. Nichts hatte Struktur gegeben, da war kein Fressen, kein Rasten, da war nur Nichts gewesen und zu viel Einbildung. In einem Gefühl des trotzigen Aufschwungs wollte ich mich nicht noch einmal der Strömung überlassen und so richtete ich mich danach: den Schatten aus dem Weg gehen; der Intuition folgen; keinem Druck nachgeben. Und dann waren sie da. Ein Schwarm goldener Fische. Ich fügte mich ein in den wabernden Farbfleck, den sie bildeten; perfekt dafür gemacht. Kurz ließen wir uns in der neu zusammengefügten Ordnung umhertreiben, und ich betrachtete das Aufglimmen von Reflexionen und Symmetrien und ließ mich mittreiben und hielt das Treibenlassen nicht mehr aus. Ruckartig passierte ein Stillstand im Schwimmen, und auf einmal umschwärmten sie mich von allen Seiten und wirkten neugierig, schienen mir erwartungsvoll, wie sie so mit ihren Flossen zitterten. Vielleicht hatte ich mehr erlebt als sie — ich war Dezember 2013 29