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entkommen. Vielleicht wussten sie das. Ich hätte ihnen keine Antwort geben können, wie ich das gemacht hatte, aber ich konnte in ihrer Mitte bleiben, sodass sie nicht allein sein würden und ich auch nicht. Um uns zu schützen, blieben wir tagsüber im tieferen Wasser, bewegten uns kaum. Wir passten uns der Umgebung an und bemerkten, dass nicht nur wir das taten: Die Farbenwelt wurde eintöniger, sie verlor ihre Tiefe, verlor ihre Schärfe. Ich hätte mich ewig mit dem Suchbild beschäftigen können, das wir bildeten, wenn wir uns tarnten: unter Steinen und hinter Pflanzen und zwischen Korallen begann auf einmal etwas, sich von dem Ort wegzubewegen, den ich genau beobachtet hatte, und wieder war ich getäuscht worden. Aber was hätte ich auch sonst tun sollen tagsüber, wenn oben diese Schatten waren und oft genug ganze Schwärme nicht mehr von dort zurückkamen. Zum Fressen verließen wir unsere Verstecke nur mehr nachts. Wenn das Mondlicht im richtigen Winkel einfiel, wurde ein Schwärmen und Treiben in Farben sichtbar, in unseren eigenen Farben, die wir noch nicht vergessen hatten und die wir annahmen, wann immer wir glaubten, es wäre sicher genug dafür, und wir glaubten uns sicher. Ich glaubte uns sicher in der Nacht. Bis jene eine Nacht kam, die mich zurückdenken ließ an den Moment allein in der Dunkelheit am Meeresboden, in dem mir bewusst geworden war, wie durchlässig unser Schutz ist, und wie hatte ich dieses Gefühl vergessen können, dass nichts wirklich sicher ist: Sie waren gekommen mit Lichtern so stark, dass sie die Nacht durchleuchteten, tief ins Wasser hinein, und keine Tarnung konnte mehr helfen, da wir der Sichtbarkeit jetzt völlig ausgeliefert waren. Mein Schwarm flüchtete. Ich brachte uns in die Tiefe hinunter, in der wir uns fast verloren. Wieder aufgetaucht versicherten wir uns der Einheit unserer Gruppe und der Angepasstheit unserer Farbe und verschwanden zurück in die Dunkelheit. Ich konnte dort nicht bleiben. Keiner durfte merken, welch wahnsinnige Idee mich wieder verfolgte: Uns konnte jemand schen, obwohl wir uns nicht einmal gegenseitig schen konnten. Ich fragte mich, ob nur ich es spürte. Oder ob es jemanden gab, mit dem ich es teilen könnte. Ich entschied, dass wir in der Nähe der Oberfläche bleiben, dafür aber unsere Farbwechsel verstärken würden. Wir bildeten Muster, die mit dem Hintergrund verschmolzen: wir wurden zu graubraunen Kieselsteinen, die am Boden dahintreibend stillhielten. Wir wurden verschiedene Töne von Grün, das sich einfügte in Schattierungen des Seegrases. Wir wurden orange Muscheln und weiße Korallen. Es wurde immer schwieriger, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Überall war Licht: natürliches, grelles, warmes oder beißendes — ständiges Licht, und fast nie waren da keine dieser Schatten. Hätte es Dunkelheit gegeben, wäre es weniger schlimm gewesen, weil wir sie nicht pausenlos hätten schen müssen. Weil ich sie nicht pausenlos hätte überwachen müssen. Ewigkeiten — so fühlte sich das an, wenn man nichts anderes tat, als jemanden dabei zu beobachten, wie er versuchte, sich zu verstecken, und wie er daran scheiterte und wie er es wieder versuchte und wie ich ihn immer noch sah und wie er wieder von vorn begann und wie er weggezogen wurde an einem Haken direkt hinauf in einen Schatten und wie ich übersah, dass ich selbst versteckt war, und wie ich nachlässig wurde mit uns und wie ich auf einmal ein Netz übersah und wie ein Großteil 30 ZWISCHENWELT meines Schwarms weggerissen wurde, ganz unaufgeregt direkt vor mir; ich sah sie im Gegenlicht sich entfernen, blitzschnell angepasst an die Farbe des Netzes. Doch all das Anpassen hatte am Ende nichts genutzt, die Tarnung war durchlässig. Während ich meine eigene Tarnung aufgab, während ich mich wie als Auflösung des Suchbildes aus der Koralle herausschälte und für kurze Zeit ein einzelner Fleck im Wasser war, während ich dem Netz nachjagte, nahm ich, ganz ohne mein Zutun, alle Farben an, die ich passierte. Es musste wild ausgeschen haben, ein Blättern durch das Farbspektrum des Meeres, ein Blättern durch alle Farben, ein ständiges Verschwinden in meiner Umgebung, ein Auftauchen, ein Verschwinden; dem völlig ausgesetzt. Ich kam dem Netz nicht mehr nach und wenn ich es doch gekonnt hätte, was hätte ich überhaupt tun sollen. Als es sich auflöste in einem großen Schatten, als es aus dem Wasser verschwand, kehrte ich zu den anderen um, die zurückgeblieben waren — fast hätte ich sie nicht entdeckt, so perfekt waren sie dem Hintergrund angepasst. Was hatte ich erwartet? Sie beachteten mich nicht. Sie machten sich unsichtbar. Sie bewegten sich nicht, egal, wie nahe ich ihnen kam. Zurück in den Tiefen der Dunkelheit war ich wieder allein, wieder auf der Flucht; nur diesmal hatte ich das Gefühl, mich könnte nichts mehr überraschen, egal, wo ich hinkäme. Ich blieb nicht tief unten, das schaffte ich nicht. Zu schnell überkam mich das enge Gefühl des Gesehenwerdens. Selbst wenn ich jemandem begegnet wäre, wäre ich allein geblieben, denn wieder war etwas Seltsames passiert, und wieder wusste ich nicht, wieso: Ich hatte begonnen, meine Farbe zu verlieren. Von der Spitze der Schwanzflosse her wurde ich transparent, immer mehr und mehr. Ich bemerkte es nicht gleich und bemerkte es dann an den Reaktionen anderer und noch später an der Abwesenheit jeglicher Reaktion, weil ich offenbar immer mehr im blauen Wasserhintergrund verschwand. Ich war so erleichtert. Ich würde wieder an die Oberfläche können, würde im Licht sein dürfen, würde die Farben betrachten, ohne sie zum Werkzeug meines Überlebens machen zu müssen. Ich würde niemandem verpflichtet sein, für keinen verantwortlich und endlich würde ich nicht mehr flüchten müssen vor den Schatten; nie mehr hinunter in die Dunkelheit, denn keiner würde mich mehr sehen können, wenn ich ganz durchsichtig wäre, niemand mehr. Ich bin aber nie wirklich durchsichtig geworden. Ich bin verletzlich geworden und am Ende der Sichtbarste von allen: sichtbar bis in mein Innerstes. Der einzige, in den man hineinsehen kann. Die Haut transparent, mein Innenleben enthüllt. Johanna Wieser, geb. 1988 in Graz, aufgewachsen in Salzburg, lebt in Wien. Studierte Publizistik und Germanistik und seit 2010 Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst; arbeitet zeitweise als Übersetzerin.