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kannten, desto mehr erkannte ich, daß die scheinbare Hilflosigkeit dieses Mannes nur seine Verzweiflung widerspiegelte. Als ich einige seiner Revueprogramme, Liedtexte und Doppelconferencen, die er noch in Wien geschrieben und in die Emigration mitgenommen hatte, las, wufste ich, daß er in Wirklichkeit witzig und lebensfroh war. Eines Tages war ich mir sicher, daf er der Richtige ist. Wobei ich aber noch lange nicht ans Heiraten dachte. Ich wollte Karriere machen und berühmt werden.° Auch Hugo Wiener hegte von Beginn an große Sympathie für die junge, blitzgescheite Soubrette. Doch eine nähere Beziehung mit ihr einzugehen, scheute er zunächst — aus gutem Grund: Ich war ziemlich beunruhigt. Ich hatte mich in Cissy verliebt, und ich glaube, dass ich ihr auch nicht ganz unsympathisch war. Und was sonst das größte Glück gewesen wäre, war hier das gröfte Unglück. Wir hatten beide unsere Familien in Wien — und Hitlers Arm reichte weit.’ Wie allen Emigranten verlangte auch ihnen die neue Situation Anpassungsfähigkeit und Ideenreichtum ab. Im Gegensatz zu anderen waren sie nur zum Teil gezwungen, andere, ihrem Metier fremde Arbeit ausüben zu müssen. Hugo Wiener gab Klavierunterricht, später gestaltete er im „Radio Continente“ seine eigene Sendung „Ugo con suo organo“ („Hugo mit seiner Orgel“), Cissy Kraner war als Sekretärin und Verkäuferin in einer Bäckerei tätig. Später pachteten die beiden einen kleinen Tabakladen, der ihnen zusätzlichen Verdienst einbrachte. Im Gegensatz zu vielen anderen konnten sie sich glücklich schätzen, rasch Arbeit gefunden zu haben, denn nicht überall durfte man seinen Lebensunterhalt verdienen. Nur wenige Künstler — doch unter anderem die meisten Mitglieder der Wiener Truppe - schafften es, in einem fremdsprachigen Land künstlerisch wirklich wieder Fuß zu fassen. Neben der fremden Sprache als schwer überwindbarer Barriere erwies sich das völlig anders gelagerte Kulturleben, in dem ihre Beiträge kaum gefragt waren, als große Herausforderung. Mit der fortschreitenden Anhebung des Lebensstandards erschien das Leben schlagartig in einem anderen Licht: „Ein voller Magen lässt das Leben nicht nur anders erscheinen, es istanders. Man ist optimistischer, man hat keine Depressionen, man nützt seine Chance. Chance ist jene Ecke, an der Pech und Glück aneinanderstoßen und um diese Ecke gingl[en] [wir].“* Wieners und Kraners Visa waren schon einmal um sechs Monate verlängert worden, Wiener bekam durch Intervention beim Innenminister ein Dauervisum, aber Kraner musste ihr Visum an der Grenze neu beantragen. Wiener erinnert sich: Cissy musste allein nach Cucutd. Was das heiftt, weiß nur der, der das Südamerika jener Zeit kennt. |...] Sie musste die Strecke zurücklegen, die wir schon einmal zurückgelegt hatten [...] und musste in demselben ‚Hotel‘ absteigen, in dem wir auf den Stühlen sitzend die Nacht verbracht hatten, weil es nicht möglich war, die Betten zu benutzen. Als sie nach zwei Tagen Cucutd erreichte, sagte ihr der venezolanische Konsul: „Sie haben Glück. Ich habe wirklich den Auftrag hier, ihnen das Visum zu geben. Das ist nicht immer so.“ [...] Jetzt aber] hatten wir beide |...] „ständigen Aufenthalt“, und wenn wir kein Verbrechen begingen, konnte man uns nicht ausweisen. Man hätte Cissy Kraner ohne weiteres ausweisen und nach Österreich zurückschicken können, denn: „Von Chile ist ein Schiff gekommen, das die deutschen Frauen mitgenommen hätte, um sie ins Großdeutsche Reich zurückzubringen.“'” Für Kraner stand jedoch fest, nicht von der Seite ihres Partners zu weichen. Lange Zeit war nicht sicher, ob Hugo Wiener und sie 34 ZWISCHENWELT in Venezuela auch einen sicheren Schlupfwinkel hätten: Wir haben ja gezittert, ob Südamerika Deutschland auch den Krieg erklärt. Sie haben nur die Beziehungen abgebrochen und die deutsche Botschaft ist weggekommen. Im „Johnnys“ sind sie [die Deutschen] als Gäste zurückgekommen.'' “Es sprach ein Mann aus Austria: „Wir leben hier alle wie die Hund‘! Kommt’s, mach’ ma einen Öst’reich-Bund!“'? Die Behörden fangen an, Repressalien gegen die Deutschen zu ergreifen, was wieder nur die Emigranten trifft, weil die richtigen Deutschen schon fast alle Venezolaner sind. Die, die es noch nicht sind, müssen sich, wenn sie einen Sonntagsausflug in die Umgebung von Caracas machen wollen, bei der „Ausreise“ ab- und bei der „Wiedereinreise“ anmelden, sie müssen ständig ihre Cedula (Kennkarte) mithaben, die Polizei macht Stichproben, wird man ohne Cedula angetroffen, wird man sofort mitgenommen und muss mindestens eine Nacht im Kittchen verbringen.” Um von der Bevölkerung nicht länger als Deutsche wahrgenommen zu werden und sich als Österreicher zu deklarieren, gründete man mit Hilfe Otto von Habsburgs den „Centro Austriaco“ („Österreichisches Zentrum“), der wesentlich zur Erleichterung der Lebensumstände beitrug: Einige Männer aus unserer Kolonie, ich war auch dabei, trafen sich unter der Führung von Dr. Jabloner-Fugger im Geheimen in einer Anwaltskanzlei. Wir wollten etwas unternehmen. Es war nicht ungefährlich. Wäre es vor der Zeit aufgeflogen, wären wir als Staatsfeinde betrachtet worden. Dr. Jabloner [...] nahm Fühlung mit den Kreisen um Otto von Habsburg auf und suchte Kontakt zu venezolanischen Politikern. Erster Erfolg: wir durfien einen Verein gründen, den wir „Centro Austriaco“ nannten. Dadurch hatte uns Venezuela (ohne es zu wollen) als Österreicher anerkannt. Bald bekamen wir auch einen Sonderstatus. Kein An- und Abmelden beim Verlassen der Stadt und auch keine sonstigen Schikanen.'* Der „Centro Austriaco“ war auch über den Krieg hinaus für die österreichischen Emigranten von großer Wichtigkeit: Die erste Aufgabe des Centro war es, eine Reklassifizierung der Österreicher in Venezuela durchzusetzen. Diesmal war es schon der Vorstand unserer Vereinigung, der die Kollektivhaftung dafür übernahm, dass die zur Reklassifizierung von uns vorgeschlagenen Österreicher [...] politisch einwandfrei erschienen. Diesen Landsleuten wurde dann vom Innenministerium eine neue Cedula (Identitätskarte) ausgestellt mit dem stolzen Vermerk: Nacionalidad — Austriaco. Damit fielen für uns Österreicher die diskriminierenden Beschränkungen, die uns vorher auferlegt waren, weg. Nach unserem Wissen war Venezuela das einzige Land in Lateinamerika, wo eine derartige Reklassifizierung durchgeführt wurde. [...] Nach Ende des Krieges und dem Wiedererstehen der Republik Österreich übernahm das Centro auch konsulare Funktionen, Lebensbestätigungen, Beglaubigungen, usw., die von beiden Regierungen anerkannt wurden, bis zur Errichtung eines österreichischen Konsulats.” Auch in zahlreichen anderen Zufluchtsländern gründeten österreichische Flüchtlinge Organisationen, die als Kommunikationsstätte Geflohener und als Propagandastätte für das besetzte Heimatland Österreich dienen sollten.'° Für die österreichische Kolonie in Caracas veranstalteten Wiener und Kraner im Rahmen des „Centro Austriaco“ einige Male im Jahr „Wiener Abende“ in deutscher Sprache, „was seit dem Eintritt Amerikas in den Krieg nicht möglich gewesen war“.'