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Diese Vorstellungen waren Nummernrevuen, für die Wiener zum Teil neue Sketches verfasste, zum Teil auf seine „Femina“-Vergangenheit zurückgriff und jene Texte einmal mehr Verwendung fanden, die aus dem „Anschluss-Österreich“ nach Südamerika gerettet werden konnten. In finanzieller Hinsicht konnte man damit leider nicht reüssieren. Diese kulturellen Aktivitäten dienten weniger dem Lebensunterhalt, sondern vielmehr als psychische Überlebensstrategie, die der Entwurzelung entgegenwirken sollte.'® Hugo Wiener und Cissy Kraner verantworteten das Programm stets selbst, Cissy Kraner inszenierte des Öfteren. Diese Nummernrevuen, die keinen Handlungsfaden besaßen, wurden von einem aus Laien und Profis gemischten Ensemble dargeboten. Auch Hugo Wiener selbst stand in vielen Rollen auf der Bühne. Später trat er vor Publikum nur mehr als Klavierbegleiter Cissy Kraners auf. Einem nicht zuordenbaren undatierten Zeitungsausschnitt ist zu entnehmen: Als Veranstaltung des , CENTRO AUSTRIACO “ fand am 28. Mai 1945 im Ateneo de Caracas die Uraufführung der neuen Revue Hugo Wieners statt: „Träumen Sie mit“. Es war ein unvergesslicher Abend. Die Darsteller, mit Ausnahme Cissy Kraners, durchwegs Amateure aus der österreichischen Kolonie, unermüdlich in wochenlangen Proben vorbereitet, ernteten grossen, verdienten Beifall. [...] Cissy Kraner, die vielseitige, sprachgewandte Soubrette und Diseuse, glänzte nicht nur als weibliche Hauptdarstellerin, sondern zeigte sich von einer neuen Seite aufs Erfolgreichste als Spielleiterin. Bei Hugo Wiener wird es einem schwer, ob man den Dichter oder Komponisten oder den blendenden Hauptdarsteller mehr rühmen soll. Sein Hauptschlager „Man tanzt wieder Walzer in Wien“ wird seither in ganz Caracas gesummt ... Wiener und Kraner heirateten am 6. April 1943. Ein reiflich überlegter Entschluss auf beiden Seiten, der wenige Zeit später auch beruflich zu neuen Höhepunkten führen sollte. “Ihr seid’s wahnsinnig! Da setzt sich kein Mensch hin!“!°— „Johnny’s Musicbox“ Mit den Abenden im „Centro Austriaco“ waren Wiener und Kraner zwar den österreichischen und deutschen Emigranten ein Begriff, doch sollte der große Durchbruch bei den Venezolanern noch kommen. Nach der Hochzeit eröffneten Wiener und Kraner „Johnny’s Musicbox“, eine kleine Piano-Bar im Hinterzimmer eines Schnellimbissrestaurants. Hugo Wiener beherrschte das Spanische mittlerweile so gut, dass er begann, Lieder in der Sprache zu texten und zu vertonen, um sie dann von Cissy Kraner vortragen zu lassen. In „Johnny’s Musicbox“ und im „Centro Austriaco“ entwickelte sich jene Art von Vortrag, die ab 1950 von den beiden im Wiener „Simpl“ perfektioniert wurde: Kraner, die einzige Diseuse des Etablissements, trug die ihr auf den Leib geschriebenen Lieder ihres Gatten in unnachahmlicher Manier vor, während er sie am Klavier begleitete. Zweifler hegten den Verdacht, dass der Plan der beiden, die Bar zu einem florierenden Lokal zu machen, nicht von Erfolg gekrönt sein würde. Tatsächlich gestaltete sich der Start des neuen Unternehmens holprig. Nur wenige Gäste, vorwiegend Einheimische, waren am ersten Abend anwesend. Wiener ermunterte Kraner, sein neues Lied „Aunque usted no lo crea“ („Auch wenn Sie es Cissy Kraner und Hugo Wiener in der Revue „Vamos a Colombia“, 1938 nicht glauben“), eine Nummer über einen älteren Herren namens Sehor Corchea, den seine junge Frau Maria Theresia mit einem Kind beschenkt, zu singen. Es war bei den Venezolanern unvermutet erfolgreich, denn sie sahen in Wieners Komposition eine Parodie auf den amtierenden venezolanischen Präsidenten Isaias Medina Angarita”, dessen junge Frau ebenfalls Maria-Theresia hieß und vor kurzer Zeit ein Kind bekommen hatte. Schlagartig wurden Wiener und Kraner bekannt, das „Johnny’s“ wurde zum „In-Lokal“ und sollte wenig später auch zum Stammlokal der venezolanischen Revolutionäre werden. Platznot war an der Tagesordnung: Am nächsten Tag hätte das Lokal fünfmal so groß sein können — wir hätten keinen Platz frei gehabt. Schon bei Tag waren unsere neun Tischchen bestellt, die Logen waren natürlich auch voll, die Leute saßen auf Coca-Cola-Kisten und Fettdosen. Und immer wieder wurde el „Senor Corchea“ verlangt. Daß der Präsident von diesem Tag an, besonders bei der Gegenbewegung, „Senor Corchea“ hieß, ist selbstverständlich.”' Cissy Kraner, die mittlerweile fünf Sprachen beherrschte, sang Lieder und Chansons in Spanisch, Englisch, Holländisch und Französisch, wobei sie mittlerweile auf ein großes Repertoire zurückgreifen konnte. Deutsch durfte nur ein einziges Lied gesungen werden: „Lili Marleen“. Kraner sang Lieder, die sich das Publikum wünschte und weiterhin jene Chansons, die Wiener eigens für sie schrieb. Unter anderem entstanden im Laufe der Zeit auch die Lieder „Mujer perligrosa“ („Die dämonische Frau“) und „Sermon Casera“ („Die Gardinenpredigt“) nach dem „Tanz der Stunden“ von Ponchielli, den sie später auch im „Simpl“ vortrug. Dezember 2013 35