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Durch die Arbeit als Verkäuferin, den eigenen Tabakladen und die allabendlichen Auftritte im „Johnny’s“ hatte Cissy Kraner einige Monate lang ein riesiges Arbeitspensum zu bewältigen. Auch Hugo Wiener betreute untertags weiterhin seine Klavierschüler und begleitete Abend für Abend seine Gattin am Klavier. Beiden blieb über Monate nur wenig Zeit zur Regeneration: Ich habe, wie ich angefangen habe mit dem „Johnnys“ täglich zwanzig Stunden gearbeitet, ohne freien Tag. Wenn die Leute sich heute so aufpudeln, wenn sie fünf Stunden arbeiten müssen, da kann ich Ja nur lachen. [...] Vor der Pasteleria musste ich in den Tabakladen, einkaufen, was wir brauchen als Ware, bestellen ...” Wenn ich jemandem sage, dass ich zwanzig Stunden gearbeitet habe jeden Tag über ein halbes Jahr, glaubt der, ich bin ein Trottel. Ich habe keinen freien Tag gehabt. Sie müssen bedenken, dass ich um sechs Uhr in der Früh angefangen hab‘, um zwei Uhr nachts ist die Bar gesperrt worden. [...] Dann habe ich nur mehr halbtags gearbeitet in der Bäckerei. Dann nur mehr Nachmittag, da hab’ ich den Vormittag frei gehabt, wissen Sie? Da konnte ich mich ausruhen. Und dann habe ich ganz gekündigt, wie ich gsehn hab‘, das Gschaft geht so gut. Und dann haben wir das auch verkauft, das Tabakg’schaft.”* Dass unter solchen schwierigen Bedingungen auch nicht an Familienzuwachs zu denken war, liegt auf der Hand. Die besondere Gabe Wieners, der fortan fiir Cissy Kraner Lieder in Spanisch und Englisch schrieb, lag in seinem Talent, „in beiden Sprachen den Humor zu erfassen, was in einem fremden Idiom immer das Schwierigste ist“”‘, und schaffte es, als ein Künstler, der von der Sprache abhängig war, eine neue Existenz aufzubauen und darüber hinaus überaus erfolgreich zu sein. Ein besonderer Glücksfall lag auch darin, den Humor der Venezolaner getroffen zu haben, denn Wieners und Kraners Darbietungen waren völlig konträr zu dem, was den Einheimischen vertraut war. Völlig unvermutet erfuhren die beiden 1945 vom Ende des Krieges in Europa. Um sein Repertoire zu erweitern, ließ Hugo Wiener sich von amerikanischen Gästen, sobald diese einen Besuch in ihrer Heimat ankündigten, Notenmaterial mitbringen, sodass er mit der Zeit sowohl über alte amerikanische Lieder wie auch über die neuesten Musicals verfügte. Die beiden füllten das Lokal allabendlich als „Zwei-PersonenCabaret“ und begeisterten nicht nur die venezolanische Bevölkerung, sondern bald auch hochrangige Gäste des nordamerikanischen Raumes wie etwa die Gattin des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und den Unternehmer Nelson Rockefeller. Aber auch Richard Tauber kam auf seiner Tournee durch Südamerika, als er Auftritte in Caracas absolvierte, auf einen Sprung bei seinen Freunden vorbei. Über Jahre hinweg blieb das „Johnny’s“ das unangefochtene Szenelokal der Zeit. Kraner glaubt den Grund des Erfolgs zu kennen: Wir haben’ ja nicht wie eine Bar geführt, sondern wie eine KabarettBar. Das war keine Bar, wie so eine Bar ist, sondern mehr Kabarett, und dadurch, dass ich mit allen Leuten gut war, mit allen gesprochen hab‘ — auf jedem Tisch eine andere Sprach‘ |...]. Wir haben zum Beispiel einen Spanier gehabt, der hat immer Granada gesungen. [...] Es war locker. Es hat ja niemand geglaubt, dass das so gehen wird. Aber wir haben so ein gemischtes Publikum gehabt |...] — wirklich in allen Sprachen.”° Selbst als Cissy Kraner und Hugo Wiener 1944 an Hepatitis erkrankten, wurde das Lokal weiter bespielt. Erst 1946, als Kraner an „Perniziöser Anämie“ litt, zog man nach Mexiko, um einen 36 ZWISCHENWELT Luftwechsel zu ermöglichen, da sämtliche Behandlungsmethoden in Caracas fehlgeschlagen waren. Nachdem es Cissy Kraner wieder besser ging, spielten sie in Mexiko-Stadt für die dortige deutschsprachige Kolonie, und es wurde ihnen ein Vertrag für weitere Gastspiele angeboten, doch Kraners sich verschlechternder Gesundheitszustand ließ dies nicht zu. Also kehrten die beiden nach Caracas zurück und bespielten das „Johnny’s“ bis zu ihrem ersten Besuch im Nachkriegs-Wien im März 1948.” Wiener schrieb an Fritz Imhoff, mit dem er in regelmäßigem brieflichem Kontakt stand: Bei uns gibt es nichts Neues. Wir arbeiten sehr viel, unser Lokal ist täglich voll und gesundheitlich geht es mir jetzt auch besser. Im Sommer 1948 werden wir uns wieder einen langen Urlaub leisten und wenn es in Europa wieder halbwegs besser ist, bei dieser Gelegenheit auch nach Wien fahren. Ob wir dann bleiben oder wieder zurückfahren, weiss ich nicht, ich glaube aber das letztere. Auf jeden Fall haben wir nicht die Absicht, hier etwas aufzugeben, weder die Wohnung, noch das Geschäft. Das können wir dann immer noch.” Und: Meine Frau will auch wieder einmal ihre Schwester sehen und so kommen wir auf jeden Fall zu Besuch. Vielleicht bleiben wir auch, obwohl bisher alle, die von hier nach Wien gefahren sind, um sich dort wieder niederzulassen, zurückgekommen sind.” Wieners und Kraners Abschied wurde vom Publikum bedauernd zur Kenntnis genommen. Es folgten Aufrufe, sich dieses Paar als einmaliges Ereignis nicht entgehen zu lassen und rasch noch vor dessen Abreise das „Johnny’s“ zu besuchen. Im März 1948 brachen Hugo Wiener und Cissy Kraner tatsächlich zu einer „Schnuppertour“ nach Wien auf, wollten jedoch binnen zweier Jahre wieder nach Caracas zurückkehren, um ihren „ständigen Wohnsitz Venezuela“ nicht zu verlieren. Die Theatersituation im Nachkriegs-Wien war äußerst trist. Mit der Theatersperre 1944 durften nicht einmal mehr der „Simpl“ und das „Wiener Werkel“ ihre Tore offen lassen. Viele Häuser konnten nach dem Krieg nicht wieder bespielt werden, da sie arg demoliert oder gar völlig zerstört waren.?! Wiener suchte sofort seine alten Kontakte auf, und auch Cissy Kraner stand bald wieder auf der Bühne. Sie absolvierte ihren ersten Auftritt vor Wiener Publikum in der von Gyimes inszenierten Ausstattungsrevue „Süße Bestien“ welche im „Zirkus Rebernigg“ gezeigt wurde. Sie sang hierin das von Wiener geschriebene Chanson „Verzwickte Verwandtschaft“ und konnte das Publikum sofort für sich einnehmen. Trotz dieses Engagements kehrte das Paar Wiener-Kraner noch einige Male nach Venezuela zurück, um ihre dortige Aufenthaltsgenehmigung aufrecht zu erhalten. 1954 wurden die beiden endgültig in Wien sesshaft. Cissy Kraner bestätigte mir gegenüber mehr als 70 Jahre später, wie schr ihr Gatte sein Leben lang unter dem Verlust seiner Angehörigen gelitten hat, relativiert aber Wieners damalige Handlungsmöglichkeiten, sämtliche Hebel für seine Familie in Bewegung setzen zu können: Naja, wie er die Gelegenheit gehabt hat, wegzufahren, ist er natürlich weggefahren. Nur hat er geglaubt, dass sie nachkommen würden. Aber mit was für einem Geld? Uns hat ja die Fahrt gezahlt die kolumbianische Regierung.” Dann hätte er für seine Eltern Visa bekommen sollen nach Venezuela. Dann ist Amerika in den Krieg gegangen und dann war's nicht mehr möglich. Damals hat sich keiner um einen geschert.”?