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Hochzeitsfoto Cissy Kraner, Hugo Wiener, 6. April 1943 Wiener, der mit seiner Schwester in regelmäßigem brieflichem Kontakt stand, erhielt Bericht über ihre zusehends prekär werdende Lage: „“Bitte, bitte, vergiß nicht auf uns. Wir wollen nicht zu Irma.“ (Irma hieß ihre Freundin, die gleich mit einem der ersten Transporte nach Polen verschickt wurde.) Sie schreibt [...], dass das Klima dort furchtbar ist. Wir würden es bestimmt nicht aushalten. Mein Gott, was soll ich nur tun?“ „Wir wollen nicht zu Irma“, heifst in unserer Sprache, dass sie vor der Verschickung nach Polen stehen. Und angenommen, ich hätte die Visa, wer würde die Reise bezahlen? Wo würden sie wohnen? Wovon würden sie leben? Aber daran dachten Cissy und ich nicht. Die Hauptsache wären die Visa. Und es wird immer aussichtloser. Der Krieg weitet sich aus. Wann wird er zu uns kommen? Der Tod braucht kein Visum.“ Und einen Tag vor ihrer Deportation wandte sie sich hilfesuchend an eine Nachbarin, um sich auf die Fahrt ins Ungewisse vorzubereiten: Liebe Frau Lilly! [...] Sind Sie nicht böse, dass ich Sie nochmals belästige, aber erweisen Sie mir noch den letzten Liebesdienst. Ich bitte Sie hauptsächlich um Brot. Vielleicht lässt Ihnen jemand im Haus was zukommen. Wir können alles brauchen, weil wir nicht wissen, wie lange wir unterwegs sind. Vielleicht können Sie drei Wollhauben auftreiben. Wir fahren Mittwoch nachts. Vielen Dank. Ihre Gisa.° Der Brief, der eigentlich an die Nachbarin adressiert war, wurde Wiener nach dem Krieg zugestellt. Die Tatsache, dass er seine Familie nie mehr wiedersah, konnte Hugo Wiener nie verarbeiten. Anlässlich eines Interviews gab er zu verstehen, wie sehr ihn die Sache sein ganzes Leben beschäftigte: Das Leben eines Komikers müsste eigentlich ganz normal verlaufen. Mein Leben verläuft auch normal. Ich bin auch ziemlich ernst und gelte als Humorist. Schauen Sie, ich bin oft traurig. Ich bin jeden Tag traurig, und zwar kann ich Ihnen jetzt sagen, warum. Meine Eltern, meine Schwester wurden vergast. Es vergeht kein Tag, wo ich nicht einen Moment daran denke. Ohne es zu wollen, schiefst es mir durch den Kopf. „Verzeihen, aber nicht vergessen!“ wurde zu seinem Credo: Ich hab's auch nicht vergessen. Ich denk jeden Tag daran. Nicht so, dass ich ein Gelübde gemacht hätte, ich werde jetzt jeden Tag daran denken. Nein, es schiefßt mir durch den Kopf. Einmal Vormittag, einmal Nachmittag. Also nicht zu einer bestimmten Zeit oder was, aber ich habs wirklich nicht vergessen.’ Grofen Halt fand er, der Verzweifelte und Introvertierte, in der energischen Cissy Kraner, die ihm von ihrer gemeinsamen Zeit in Siidamerika bis zu seinem Tod, der ihn mitten aus dem Arbeitsleben riss, eine unerschiitterliche Stiitze war. Anmerkungen 1 Hugo Wiener: Zeitensprünge. Erinnerungen eines alten Jünglings. — Wien: Amalthea 1989, S. 147. 2 Wiener: Zeitenspriinge, S. 147f. 3 Hugo Wiener. In: Zur Person. Hugo Wiener. Franz Ferdinand Wolf im Gesprach mit Hugo Wiener. Aufzeichnung aus dem Theater in der Josefstadt. Erstsendung 8.12.1992, ORF 2 (39:37 min). 4 Gespräch mit Cissy Kraner, 10.12.2007. Auf alle folgenden Gespräche mit Cissy Kraner soll lediglich verkürzt hingewiesen werden. 5 Die Regieanweisungen wurden in der Übersetzung auf Deutsch belassen, etwaige Druckfehler aus dem Original stillschweigend korrigiert. 6 Cissy Kraner: Aber der Hugo ließ mich nicht verkommen. Wien: Amalthea 1994, S. 17f. 7 Wiener: Zeitenspriinge, S. 161. 8 Wiener: Zeitenspriinge, S. 187. 9 Wiener: Zeitenspriinge, S. 197. 10 Kraner, 2.2.2008. 11 Kraner, 2.2.2008. 12 Laut Cissy Kraner der Titelschlager der ersten Revue Hugo Wieners im »Centro Austriaco“, Kraner, 17.7.2008. 13 Wiener: Zeitenspriinge, S. 199. 14 Wiener: Zeitenspriinge, S. 200. 15 DOW (Akt 8729, S. 3.) Dr. Kurt Jabloner-Fugger war nach dem Krieg bis zu seiner Rückkehr nach Österreich der erste österreichische Konsul in Venezuela. 16 Vgl. Erzählte Geschichte, S. 342. — In Kolumbien wurde 1941 die überparteiliche Vereinigung „Comite de los Austriacos libres en Colombia“ (CAL) ins Leben gerufen, in Bolivien 1941 die „Federaciön de Austriacos Libres en Bolivia“ gegründet. 17 Wiener: Zeitenspriinge, S. 200. 18 Vgl. Patrik von zur Mühlen: Die Österreichische Emigration in Lateinamerika, — In: Alisa Douer (Hg.): Wie weit ist Wien. Lateinamerika als Fxil für österreichische Schriftsteller und Künstler. Wien: Picus 1995, S. 13-20, hier 17. 19 Cissy Kraner in „Zeitgeschichte im Chanson“ (Talkabend bei Reinhard Hippen im Mainzer Unterhaus, 19. 10. 1987. Private Aufzeichnung aus den Beständen des Deutschen Kabarettarchivs. (18:38 min.) 20 Isaias Medina Angarita (6.7.1887 — 15.9.1953), venezolanischer Präsident 1941-45. Er wurde nach der Revolution 1945 von Römulo Betancourt abgelöst. 21 Wiener: Zeitenspriinge, S. 209. 22 Kraner, 22.12.2006. 23 Kraner, 22.12.2006. 24 Wiener: Zeitenspriinge, S. 210. 25 Wiener: Zeitenspriinge, S. 209. 26 Kraner, 22.12.2006. 27 Vel. Brief Hugo Wiener an Fritz Imhoff, 24. 10. 1947. In: Nachlass Fritz Imhoff. Wienbibliothek im Rathaus. ZPH 1080, Box 1. 28 Brief Hugo Wiener an Fritz Imhoff, 8.5.1947, Box 1. 29 Brief Hugo Wiener an Fritz Imhoff, 24.10.1947, Box 1. 30 Wiener: Zeitenspriinge, S. 232. 31 Zu jenen betroffenen Theatern zählten auch die „Femina“ und das Burgtheater, dessen Ensemble in der Folge für einige Jahre ins „Ronacher“ auswich. 32 Kraner, 17.7.2008. 33 Kraner, 2.2.2008. 34 Wiener: Zeitenspriinge, S. 190. 35 Franz Ferdinand Wolf liest den Wortlaut von Gisela Wieners Brief. In: Zur Person. Hugo Wiener (52:42min.) 36 Hugo Wiener in „Contra — Kabarett und Kleinkunst“. Das Leben ist eine Tragödie — zusammengestellt aus vielen Komödien. Ein Portrait des Altmeisters des österreichischen Kabaretts - Hugo Wiener (Sendung auf Öl, Gestaltung: Silvia Lahner, Erstausstrahlung 16.5.1993, Ö1, 20:40 min.) 37 Hugo Wiener. — In: Zur Person. Hugo Wiener (53:35 min.) Dezember 2013 37