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EXIL IN BRASILIEN Johannes Kretschmer Einführung Warum wissen wir immer noch so wenig darüber, in welcher Weise europäische Emigranten in Rio de Janeiro, Säo Paulo, Parana oder Rio Grande do Sul gewirkt und gelebt haben? Stefan Zweigs brasilianische Erfahrungen sind vor allem von Alberto Dines aufgearbeitet worden, doch ist Zweig eine Ausnahme - dank eines der wichtigsten Bücher, das je über das Land geschrieben worden ist, Brasilien, ein Land der Zukunft. Diese berühmteste, zu einem geflügelten Wort gewordene Bezeichnung für Brasilien wird als Auftrag oder als Verhängnis empfunden und provoziert immer wieder Debatten über die Identität eines Landes, dessen „konstitutiver Akt das Exil ist“ (Renato Lessa). In der überkommenden Auseinandersetzung mit Literatur gilt das Interesse allein dem Ausnahmefall, wie Zweig; der Beitrag der großen Mehrheit der Dichter, Schriftsteller, Künstler und Intellektuellen im brasilianischen Exil ist nur selten dokumentiert und erforscht worden. Und das, obwohl der tiefgreifende Verwandlungsprozess der brasilianischen Kultur in den 40er und 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ohne die entscheidenden Impulse der Emigranten und Flüchtlinge nicht verstanden werden kann. An den germanistischen Instituten in Brasilien ist die Exilforschung noch ein junger Wissensbereich, eine Tatsache, die nur auf den ersten Blick überraschen mag, denn nur wenige Jahrzehnte sind verstrichen, seitdem der erste literaturwissenschaftliche Postgraduiertenstudiengang an einer brasilianischen Universität eingerichtet worden ist. In den letzten zwanzig Jahren sind einige gründliche Sichtungen der Themenkreise Exil und antisemitische Einwanderungspolitik der Regierung von Getulio Vargas entstanden, zu nennen wären etwa die Untersuchungen von Izabela Furtado Kestler, Alberto Dines, Maria Luiza Tucci Carneiro, Fabio Koifman, Ursula Prutsch, Marlen Eckl. Initiativen wie die Ausstellung „... mehr vorwärts als rückwärts schauen... “Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933-1945 (die seit Oktober 2013 in der Frankfurter Nationalbibliothek zu sehen ist und bald auch in Rio de Janeiro zu Gast sein wird), die Eröffnung des Stefan-Zweig-Hauses in Petröpolis als Gedenkstätte des Exils, die dem Photographen Kurt Paul Klagsbrunn und seiner Familie gewidmeten Publikationen (die sowohl in Brasilien als auch im deutschsprachigen Raum erschienen sind) oder der Roman Verbannung. Erinnerung in Trümmern von Luis Krausz sind Symptome dafür, dass Erfahrungen und Beschreibungen des Exils zunehmend stärker angeregt und rezipiert werden. So rücken jene in den Blick, die sich gegen das, was geeignet war, ihre Existenz zu vernichten oder sie glauben zu machen, dass ihre Existenz vergeblich und wertlos sei, aufgebäumt haben — manche verzagten in dem neuen Umfeld und verstummten, andere wiederum konnten sich mit Hilfe der Unterstützung durch jüdische Gemeinden und politische Gruppierungen im literarischen und kulturellen Feld etablieren und stellten ihr Leben in den Dienst sinnhafter Vermittlung von Kultur und Kunst. Zwischenwelt stellt nun das Leben und Werk einer Reihe von österreichischen Emigranten vor, deren Austausch mit brasilianischen Künstlern und Intellektuellen eher dokumentiert ist als 38 _ ZWISCHENWELT das Wirken so vieler anderer, die vor und während des Zweiten Weltkriegs in Brasilien Zuflucht vor dem nationalsozialistischen Regime gefunden haben. Zunächst einmal beleuchtet die Zeittafel Daniel Müllers historische und politische Zusammenhänge. In der Folge beschreibt Ursula Prutsch am Beispiel der Schriftsteller Leopold von Andrian und Paul Frischauer zwei höchst unterschiedliche Schicksale: der erste habsburgtreuer und rückwärtsgewandter Freund Hofmannsthals (und wohl Vorbild für dessen Chandos-Figur), der zweite Vargas-Biograph und Exilierter mit institutioneller und offizieller Rückendeckung. Alberto Dines, einer der bedeutendsten Journalisten Brasiliens, hochgechrter Zweig-Biograph und Schriftsteller, widmet sich dem Autor der Schachnovelle. Marlen Eckl zeichnet eindringlich den Weg von Otto Maria Carpeaux vom österreichischen Emigranten zu einem der wichtigsten brasilianischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts nach. Heike Muranyi stellt mit Paulo Rönai einen Übersetzer vor, der äußerst konsequent die vielfältigen Herausforderungen des Übersetzens gemeistert hat und dessen Werke zunehmend in Brasilien gelesen werden. Alexander Emanuely erinnert an den Psychoanalytiker und Dichter Iheon Spanudis. Ein weiterer bedeutender Übersetzer zwischen den Welten legt ein Selbstzeugnis vor: George Bernard Sperber. Und Adolf Opel berichtet von seinen Begegnungen mit österreichischen Emigranten im Brasilien der Militärdiktatur. In einem der nächsten Hefte der Zwischenwelt wird der zweite Teil des Schwerpunktes Exil in Brasilien veröffentlicht: Texte über Axl Leskoschek, Kurt Paul Klagsbrunn, Paula Ludwig, Ulrich Becher, Karl von Lustig-Prean und Eugen Szenkar. Allen AutorInnen, die für Zwischenwelt meist Originalbeiträge verfasst haben, sei herzlichst gedankt. Mein besonderer Dank gilt Erich Hackl und Konstantin Kaiser für die freundschaftlichen Gespräche über die Frage des Exils. ; = ea Bau der Ministerien in Brasilia, 1959, Quelle: Arquivo Püblico do Distrito Federal