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Daniel Müller Brasilien-Chronik 1930-1985 1930 Beginn des Militäraufstands, der sogenannten Revolution von 1930, am 3. Oktober. Der Präsident der Republik Washington Luis wird gestürzt und eine provisorische Regierungsjunta eingesetzt. Am 3. November wird Gettlio Vargas durch indirektes Votum zum Führer der Provisorischen Regierung erklärt. Vargas entstammte einer Großgrundbesitzerfamilie aus Rio Grande do Sul, war von 1926-28 Finanzminister im Kabinett Washington Luis und danach Gouverneur seines Heimatstaates. Der 3. November markiert das Ende der „Alten“ Republik (1889-1930), die vorwiegend geprägt war durch die Interessensallianz der Oligarchien der Bundesstaaten Säo Paulo (Kaffeeproduktion) und Minas Gerais (Viehzucht, vorwiegend Milch). Diese Politik wurde bekannt unter dem Namen cafe com leite („Kaffee mit Milch“). Die Provisorische Regierung in der Person Vargas setzt in der Folge die Verfassung außer Kraft und löst den Kongress, die Parlamente der Bundesstaaten und Vertretungen der Kommunen auf, ersetzt die gewählten Gouverneure durch von ihm eingesetzte Beauftragte (interventores). Erste Maßnahmen zur Stärkung des Zentralstaats mit gleichzeitiger rechtlicher und politischer Schwächung der Bundesstaaten und Bildung staatlicher Institutionen zur Lenkung der Produktion werden eingeleitet. Die Gewerkschaften werden vereinheitlicht und dem Arbeitsministerium unterstellt, die Industrialisierung in den folgenden Jahren stark forciert. Vargas übernimmt die Kontrolle über Legislative und Exekutive. Verschärfung der EinwanderInnengesetzgebung, die Zahl der MigrantInnen, die nach Brasilien einwandern dürfen, wird beschränkt. Davor bestanden praktisch keinerlei Einschränkungen der Immigration nach Brasilien. Im Gegenteil, zwischen 1887 und 1930 wanderten etwa 3,8 Millionen Menschen, vorwiegend aus Italien, Portugal, Spanien und Japan nach Brasilien ein. Die Nachfrage nach Arbeitskräften für die Kaffeeproduktion dieser Zeit war enorm. Kaffee war während der Ersten Republik mit durchschnittlich 60 % der Gesamtsumme Exportware Nummer eins. Noch 1920 waren fast 70 % der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. 1931 Die Christusstatue am Corcovado wird, Sinnbild für die enge Zusammenarbeit zwischen katholischer Kirche und VargasStaat, in Anwesenheit Vargas’ und aller Minister feierlich eingeweiht. 1932 _Militärischer Aufstand der Tenentes (Leutnants) im Bundesstaat Säo Paulo. Ziel dieser sogenannten konstitutionellen Revolution ist die Schwächung der Zentralgewalt, Forderungen sind die sofortige Abhaltung von Wahlen und die Wiedereinführung der Verfassung. Der Aufstand wird im Oktober von Regierungstruppen niedergeschlagen — die Macht der „Tenentes“ (sie waren es gewesen, die die militärischen Revolten der zwanziger Jahre organisiert und gegen die Herrschaft der Oligarchien gekämpft hatten) schwindet. 1933 Im Januar findet die erste antifaschistische Protestkundgebung Brasiliens in Porto Alegre statt. Im Mai beschließt die Provisorische Regierung die direkte Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung, nicht zuletzt als Reaktion auf den Aufstand in Säo Paulo im Jahr zuvor. 1934 In Rio de Janeiro wird eine Protestveranstaltung gegen die Judenverfolgung in Deutschland verboten. Es kommt zu antisemitischen Übergriffen durch die Polizei auf der Straße und in Cafes. Wenig später wird der berüchtige Nazisympathisant und Antisemit Filinto Müller zum Chef der Politischen Polizei von Rio de Janeiro bestellt. Er ist 1936 mitverantwortlich für die Deportationen der deutsch-jüdischen Kommunistinnen Olga Benärio Prestes und Elise Ewert nach Deutschland. Bénario Prestes wird 1942 in Bernburg im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet. Ewert, an Tuberkulose erkrankt, stirbt 1939 nach grausamen Misshandlungen im KZ Ravensbrück. Im Juli verkündet die neu gewählte Konstituierende Nationalversammlung die neue Verfassung und wählt Vargas zum Präsidenten der Republik. Wichtiges Merkmal ist die erstmalige Verankerung der „nationalen Sicherheit“ in der Verfassung. Das Frauenwahlrecht wird verfassungsmäßig ebenso festgeschrieben wie das Postulat einer „ethnischen Integration“ als Ziel der Einwanderungspolitik. 1935 Kommunistischer Militäraufstand, der nach wenigen Stunden scheitert. Der PCB (Partido Comunista do Brasil), führend in der antifaschistischen Allianz ANL, die den Aufstand vorbereitete, wurde 1922 vorwiegend von bis dahin anarchosyndikalistischen Arbeitern gegründet und blieb bis zu seiner Neuorientierung unter dem Einfluss der Komintern 1934 und durch den Beitritt des „Ienente“ Lüis Carlos Prestes, der schon 1924 eine militärische Revolte versucht hatte, eine kleine Bewegung, die darüberhinaus die meiste Zeit in der Illegalität agierte. Das vorrevolutionäre Klima, das PCB-Mitglieder und Komintern diagnostizierten, war offensichtlich nicht mehr als eine Wunschvorstellung, die folgenden Repressionsmaßnahmen der Regierung allerdings waren fatal: Der Ausnahmezustand wird zur Regel. 1936 Errichtung des Tribunal de Seguranga Nacional (Gericht zur Nationalen Sicherheit) mit dem Ziel der Verurteilung der am Aufstand von 1935 beteiligten KommunistInnen. Dieses Ausnahmegericht wird in der Folge zu einer ständigen Einrichtung. 1937 _ Vargas autorisiert ein geheimes Rundschreiben, das die Visumvergabe an Jüdinnen und Juden, die nach Brasilien einwandern wollen, verbietet. Dieses Rundschreiben wird ein Jahr später modifiziert, temporäre Aufenthaltsbewilligungen werden wieder erteilt, der Status (jüdischer) Flüchtlinge bleibt zumeist prekär, die Einreise schwierig. Am 10. November wird durch einen Staatsstreich des Regimes Vargas die Verfassung außer Kraft gesetzt und unter Berufung auf die nationale Sicherheit der Estado Novo („Neuer Staat“) ausgerufen. Die Nationalversammlung wird aufgelöst, Brasilien zur offenen Diktatur; alle Parteien werden verboten. Als Vorwand für den Staatsstreich dient der sogenannte „Cohen-Plan“, eine Erfindung des Integralisten Olimpio Mouräo Filho, der, durch den jüdischen Namen des angeblichen Verfassers, Cohen, den antisemtischen Topos einer jüdisch-kommunistischen Weltverschwörung bedienend, einen angeblich bevorstehenden Revolutionsversuch der Kommunisten in Brasilien fingiert und an die Öffentlichkeit bringt. Dezember 2013 39