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Ursula Prutsch Der eine verlebte die Exiljahre in privater Abgeschiedenheit, schrieb Tagebücher und blickte zurück; der andere, wesentlich jüngere, nutzte die Emigration für seine Karriere und ging so weit, dass er sich an das diktatorische Regime verkaufte. Die österreichischen Flüchtlinge Leopold von Andrian und Paul Frischauer lebten in gegensätzlichen Welten, mit unterschiedlichen politischen Auffassungen und Lebensplänen, doch eine Zeitlang in derselben Stadt, in Rio de Janeiro. Was sie beide verband, war, durch die Nürnberger Rassengesetze den schließlich für Millionen tödlichen Stempel des „Jüdischen“ aufgedrückt zu bekommen. Was sie von Tausenden anderer Flüchtlinge unterschied, waren ihr Status und ihre politischen Kontakte. Sie waren materiell privilegiert, der harte Überlebenskampf vieler anderer blieb ihnen erspart; trotzdem waren sie Vertriebene, die im Exil an der Vorstellung der Rückkehr festhielten. Leopold von Andrian, 1875 geboren und ein Enkel des deutschen Komponisten Giacomo Meyerbeer, war ein tiefgläubiger Katholik. Bis 1918 diente der Diplomat dem österreichischungarischen Kaiserhaus und blieb habsburgtreu bis zu seinem Tod.' Der Schriftsteller Paul Frischauer, 1898 geboren, Enkel des Redakteurs Ferdinand Klebinder, kam aus dem liberalen und assimilierten Wiener Großbürgertum. Klebinder hatte noch den mosaischen Glauben praktiziert, Frischauers Familie war katholisch geworden, Paul lebte beide Religionen nicht mehr. Auch ihre Emigrationsrouten verliefen unterschiedlich. Leopold von Andrian war 1918 aus dem Staatsdienst ausgeschieden, hatte ein Buch über den österreichischen Ständestaat, sowie antinazistische und pro-monarchistische Essays verfasst und hatte nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland abwechselnd in Frankreich, Liechtenstein und in der Schweiz gelebt. Das in der Tschechoslowakei deponierte Vermögen war in den nationalsozialistischen Machtbereich gefallen, die französische Staatsbürgerschaft war ihm verwehrt worden. Aus Angst vor der Gestapo hatte es der Legitimist bis zu seiner Flucht nach Brasilien vermieden, mit seinem Namen zu zeichnen. Tatsächlich hatte sich die Genfer Polizei für den Exilanten zu interessieren begonnen, der sein legitimistisches Netzwerk pflegte und gelegentlich Otto von Habsburg beriet. Als Paris an die Hitlertruppen fiel, brach Andrian mit seinem Chauffeur überstürzt aus dem französischen Kurort Aix-les-Bains auf. Der privilegierte Ex-Diplomat erhielt rasch ein französisches Ausreisevisum und die Transitvisa für Spanien und Portugal, während sie für das Gros der Emigranten eine risikoreiche „Tour de force“ waren, denn die Dokumente mussten aufeinander abgestimmt sein. Im diktatorisch regierten Portugal versuchte er zu bleiben, doch Antönio Oliveira Salazar bot Flüchtlingen kein Asyl. Im Juli 1940 erwarb Leopold von Andrian eine Schiffskarte nach Rio de Janeiro, wo er von 1902 bis 1905 als k.u.k. Legationssckretär gearbeitet hatte. Er sprach Portugiesisch und hoffte nun aufein paar Menschen, die ihn noch kannten. Paul Frischauer war 1934 nach London ausgewandert, hatte dort Romane veröffentlicht und eine Zeitlang für das Joint Broadcasting Committee gearbeitet, eine britische Rundfunkgesellschaft, die mit öffentlichen und verdeckt ausgestrahlten Radiosendungen 42 ZWISCHENWELT psychologische Kriegsführung betrieb. Dort arbeitete auch die Tochter des brasilianischen Botschafters in London, Dom Regis de Oliveira. Er soll Frischauer die Idee auseinandergesetzt haben, eine Biographie über den brasilianischen Präsidenten Getulio Dornelles Vargas zu schreiben, der das Land seit Ende 1937 diktatorisch regierte, sich jedoch als Demokrat verkaufen wollte. Das Foreign Office sandte Frischauer Ende 1940 tatsächlich mit dem zusätzlichen Auftrag über den Atlantik, für die Briten herauszufinden, auf welcher Seite Vargas denn stünde, auf jener der Achsenmächte oder der Alliierten. Darüber hinaus beauftragte es Frischauer mit Recherchen über die politische Agitation der starken deutschen Minderheit in Südbrasilien. Diesem Auftrag sollte der Österreicher jedoch nicht nachkommen. Das Foreign Office entzog ihm die Kompetenzen; der Grund geht aus den Akten nicht hervor. Vargas außenpolitische Positionierung war Ende 1940 tatsächlich nicht einschätzbar. Der versierte Taktierer und Opportunist wollte sich alle diplomatischen Türen offenhalten und entschied sich zunächst für die Neutralität seines Landes im Weltkonflikt. Einige führende Politiker des Regimes bewunderten Hitlers Macht über die Maßen und orientierten sich an Mussolinis Sozialgesetzgebung. Das mächtige Propagandaministerium DIP trug die Handschrift beider europäischer Regimes. Der Südbrasilianer Vargas war auch vor 1937 kein Demokrat gewesen. Er hatte sich der heimischen faschistischen Bewegung der Integralisten bedient, solange er sie brauchte. 1938 wurde sie dann verboten, wie alle anderen Parteien im Land. Positivistisch geschult, hielt der Gaücho aus Rio Grande do Sul das Modell einer Entwicklungsdiktatur für das geeignetste, um Brasilien zu modernisieren. Sein Außenminister war jedoch pro-amerikanisch, und Brasilien verband mit den USA - viel mehr als alle anderen lateinamerikanischen Staaten — eine lange und solide politische Allianz, die erst in den 1970er-Jahren einen Tiefpunkt erleiden sollte. Ob diese panamerikanische Allianz angesichts der deutschen militärischen Erfolge des Jahres 1940 kippen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Im August 1942 erklärte Brasilien Hitlerdeutschland und Italien den Krieg. Da Frischauer in offiziellem Auftrag immigrierte, verlief nicht nur die Einreise problemlos. Als kiinftiger Biograph des obersten Regierenden erhielt er auch rasch ein permanentes Visum. Wahrend andere Exilanten und Exilantinnen ab Januar 1942, als Brasilien die Beziehungen zu den Achsenmächten abbrach, jede Reise bei den Behörden beantragen mussten, genoss der künftige Biograph Bewegungsfreiheit. Im Dezember 1940, als die Familie Frischauer in Rio an Land ging, fand der mittlerweile 65-jahrige Leopold von Andrian eine mäßig bezahlte Arbeit als Übersetzer des Bestsellers von Antönio da Silva Melo O homem: sua Vida, sua Educacao, sua Felicidade (Der Mensch: sein Leben, seine Erziehung, sein Glück) ins Französische und Deutsche. Diese Tatigkeit war viel mehr Zeitvertreib als materielle Notwendigkeit, sie war eine Form der Selbstberuhigung. Andrian hatte durch Aktiengeschäfte ein gutes Auskommen, doch in der Korrespondenz mit seiner französischen Frau