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Andrée, die in Nizza geblieben war, und anderen Briefpartnern kommt eine Reihe von Ängsten zum Ausdruck: die Angst, nicht mehr zurückzukehren und sogar im Exil zu sterben, die Angst, durch den Krieg materielle und ideelle Güter zu verlieren, die er bei Freunden wie dem Schweizer Diplomaten Carl J. Burckhardt untergebracht hatte. „Dieses Land ist unendlich anregend, besonders: wenn man nicht so alt ist wie ich, dabei ausruhend u. gesund u. fabelhaft billig“, schrieb Andrian im Oktober 1940 noch begeistert an den Schweizer Freund. Dessen Antwort wiederum reflektierte die klassischen Brasilien-Bilder, die in Europa seit dem 16. Jahrhundert verfestigt waren: „Brasilien erscheint von diesem mishandelten [sic] Kontinent aus als ein Paradies, kürzlich sah ich einen brasilianischen Jagdfilm von unsäglicher Schönheit, mit dem ganzen Zauber des Unerschlossenen, Überreichen.“? Politische Inhalte der Briefe Andrians sind verschlüsselt, nicht nur wegen der europäischen Zensur, sondern auch wegen der brasilianischen. In einem Brief an Andree, von der er getrennt lebte, erklärte Andrian die Notwendigkeit seiner Flucht metaphernreich: Er habe im vorhinein erkannt und es nun ganz genau durch „kranke Freunde“ erfahren, die an „derselben Krankheit“ wie er selbst leiden würden, dass man bei einer Rückkehr nach Europa „zur Behandlung“ in „Sanatorien“ gezwungen werde, die zwar „gut eingerichtet“ seien, in denen man aber trotzdem „sehr rasch sterbe“.? Wie Frischauer genoss Andrian das Privileg der Bewegungsfreiheit. Er Hüchtete aus der tropischen Hitze von Rio gelegentlich in das nahe Teresöpolis im Orgelgebirge und nach Pocos de Caldas und Barbacena, zwei Kurorte, die im Bundesstaat Minas Gerais liegen. In Barbacena, das ihn ein wenig an Altaussee erinnerte, traf sich Andrian mit dem französischen Intellektuellen Georges Bernanos, der in der Nähe ein Landgut bewirtschaftete. Der ungarische Übersetzer Paulo Rönai gehörte zu den gelegentlichen Gesprächspartnern in Rio, allerdings nicht Stefan Zweig, dessen Literatur Andrian nicht schätzte. Die illustre Academia Brasileira de Letras hatte den Diplomaten bald nach seiner Ankunft zu einem Vortrag eingeladen. Seine Korrespondenz mit monarchistisch gesinnten Kollegen und Freunden in den USA und der Schweiz macht deutlich, dass sich Andrian exilpolitisch betätigte. Er bemühte sich um den Abdruck von Essays in Zeitungen, Exilverlagen und -zeitschriften, argumentierte darin die Notwendigkeit, Österreich wieder zu errichten und regte ein politisch vereintes Nord- und Südtirol an. Der Höhepunkt des zurückgezogenen Exildaseins war für Andrian wohl zweifellos der Besuch von Erzherzog Felix, des Bruders von Otto von Habsburg, im Sommer 1941, der die kleine österreichische Monarchisten-Gemeinde versammelte, zu der auch der ehemalige österreichische Botschafter in Brasilien zählte. Sie träumten von einer Restauration Österreichs, allerdings in Form einer Donau-Monarchie. Vor 1938 hatten sie die Diktatur der Bundeskanzler Engelbert Dollfuss und Kurt von Schuschnigg verteidigt, weil sie der Demokratie als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus nicht trauten und in ihrem elitären Gesellschaftsverständnis Macht und Entscheidungsbefugnis der „ungebildeten“, „proletarischen“ Massen fürchteten. Damit blieben sie distanziert von der großen Gruppe der pro-demokratischen, politisch (links)liberalen Exilanten, von denen sich viele — gerade durch das gemeinsame Schicksal der Vertreibung — als Juden definierten, wenn auch diese Identität vielleicht vor ihrer Emigration eine weitaus geringere Rolle gespielt haben mag. Abgesehen von den Monarchisten warben andere politische Gruppierungen deutschsprachiger Flüchtlinge um Mitglieder in ihren Exilforen. Besonders erfolgreich waren zwei ehemalige Schüler des prominenten Wiener Juristen Hans Kelsen. Rudolf Aladar Metall und Hans Klinghoffer erkämpften sogar ein eigenes österreichisches Komitee, indem sie auf dem Opferstatus Österreichs pochten. Obwohl politische Parteien verboten waren, machte das Regime eine einzige Ausnahme. Es ließ die Gründung eines Komitees zum Schutz österreichischer Interessen in Brasilien, des Comite de Protecäo dos Interesses Austriacos no Brasil, zu. Auch im Exil schrieb Leopold von Andrian Tagebuch. Waren seine Diarien und Notizbücher in den Jahren seines Berufslebens und politischen Engagements vollgeschrieben gewesen mit weltpolitischen Kommentaren, so waren die in Brasilien verfassten anders gestaltet. Andrian war homosexuell, hatte dies vor der Öffentlichkeit und seinen Arbeitgebern stets zu verbergen gewusst und deshalb auch eine Ehe geschlossen. Akzeptiert hat er seine im Verborgenen gelebte Homosexualität nie, allein schon aus Glaubensgründen. Während viele Exilanten wie Otto Maria Carpeaux oder die Buchhändlerin Susanne Bach ihr Überleben und das ihrer Familien sichern mussten, während in linken Parteien aktiv gewesene Emigranten wie Heinz Östrower stets vor der Politischen Polizei auf der Hut waren, qualte sich Andrian in seinen Kurorten mit Glaubens-, Gewissens- und Schuldfragen. Andrian reflektierte iiber Juden- und Christentum, das Leben nach dem Tode und brachte seine Sehnsucht nach einem Ideal, seine Tristesse aufs Papier, manchmal auch in der dritten Person: „[...] nichts Ideales mit einem Wort... Was Oesterreich anbelangt, und den Sieg der Westmächte, berührt ihn freilich, freudvoll oder leidvoll... aber daist jaauch sein Interesse im Spiel... verglimmende Funken von Ideal in persönliches Interesse eingesprengt [...] von allem Leid, in das er eingetaucht ist, Krankheit, Vermögensschwund, Verlust des Vaterlandes, der Geltung, Abnahme der Fähigkeiten, das Aergste... Manchmal sagt er sich: Ich bin ein typischer malus [...]“.4 Solche Reflexionen tätigte Paul Frischauer wohl nicht. Am 7. September 1943, dem brasilianischen Staatsfeiertag, kam das Werk Presidente Vargas auf den Markt und wurde dementsprechend beworben. Es machte Frischauer zu einem intellektuellen Aushängeschild des Regimes. Er war nicht der Einzige. Der Estado Novo von Getülio Vargas lud manche Hitlerflüchtlinge ein, in seiner programmatischen Kulturzeitschrift Cultura Politica zu schreiben. Durch diese Politik gab er sich tolerant und zeigte, dass es die aus Europa vertriebenen Besten errettete und mühelos in die Nation eingliederte. Der deutsche Theatermacher Wolfgang Hofmann-Harnisch ging für das Regime auf Reisen und veröffentlichte Brasilien. Bildnis eines tropischen Großreichs; das Buch konnte noch in Deutschland erscheinen. Frank Arnau, in der Schweiz geboren, erhielt den Journalistenausweis, der so begehrt war, weil er mit Reise- und Steuerfreiheit verknüpft war. Arnau schrieb Kriminalromane, die in deutscher Übersetzung unter Heifses Pflaster Rio später auch in der BRD gelesen wurden. Hans Klinghoffer publizierte 1942 zum Geburtstag des Diktators, den das Regime eine Woche lang beging, eine Auswahl seiner Reden. Gerade die Exilanten in Vargas’ Diensten verband der Versuch, in ihren Berufen weiterzuarbeiten. Manche zahlten dafür den Preis, sich wohl oder übel dem System zu beugen, das die Verwendung ihrer Muttersprache ab 1942 verbot. Wer sich mit Vargas einigermafßen arrangieren konnte, wie Frischauer, hatte hingegen Chancen auf einen Aufstieg. Dezember 2013 43