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Anmerkungen 1 Die Autorin hat zusammen mit Klaus Zeyringer für die Edition von Texten Leopold von Andrians den 7.400 Dokumente umfassenden Nachlass in Marbach am Neckar gesichtet. In keinem einzigen Dokument definierte sich Andrian als jüdisch. Auch deuten keinerlei Hinweise darauf hin, dass Elemente jüdischer Kultur in seiner Familie eine Rolle gespielt hätten. Abgesehen von der Abstammung mütterlicherseits war auch das legitimistische Engagement ein Fluchtgrund fiir Andrian. 2 Ursula Prutsch, Klaus Zeyringer (Hg.): Leopold von Andrian (1875 -1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Wien u.a. 2003, 717-718. 3 Brief von Leopold von Andrian an Andrée Wimpffen, Rio de Janeiro, 16.10.1940. In: U. Prutsch, K. Zeyringer (Hg): Leopold von Andrian (18751951), wie Anm. 2. 714-716. 4 Leopold von Andrian, Notizbuch Nr. 113, S. 41f. In: Nachlass Leopold von Andrian, DLA, Marbach a.N. Alberto Dines Stefan Zweig im Land der Zukunft Ansprache während der Festspiele am 28.7.2010 in Salzburg aus Anlass der Buchvorstellung von „Stefan Zweig im Land der Zukunft“ Es berührt mich schr, in Salzburg über Stefan Zweig zu sprechen. Hier hat er fast zwei Jahrzehnte seines Lebens verbracht und seine wichtigsten Werke geschrieben, vom Jeremias bis zum Begrabenen Leuchter. Von den drei Leben, die er gelebt haben soll, war das erste in Wien und dauerte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, und das zweite in Salzburg, im „Intervall“ zwischen den beiden Kriegen. Das „dritte“ Leben Zweigs — das er aus Mangel an Zeit und Perspektive weder definieren noch zeitlich einordnen konnte — spielte sich in Brasilien ab. Denn es gibt einen „brasilianischen“ Zweig. Zweig und Brasilien stellen ein besonderes Kapitel in seiner Biografie dar. Mit Ausnahme von Donald Prater, dem bis heute unvergleichlichen Vorläufer, beachten nur wenige Biografen die Beziehung zwischen Zweig und Brasilien. Bis vor kurzer Zeit war Brasilien noch ein exotischer Ort in den Tropen, jenseits des Ozeans, auf einer anderen Erdhälfte - ohne größere Bedeutung. Einige der Nachfolger von Donald Prater glauben noch heute, Brasilien sei eine rein zufällige Station auf dem Wege dieses von Neugier getriebenen Wanderers gewesen. Brasilien mag weit entfernt sein. Aber von wo aus geschen? Für einen Schriftsteller wie Zweig, der passioniert und verzweifelt die Nähe von Menschen, Epochen und Orten suchte, konnte nichts „weit entfernt“ oder „gleichgültig“ sein. Zweig suchte die spirituelle Einheit der Welt (übrigens der Titel eines 1936 in Rio gehaltenen und bis heute unveröffentlichten Vortrages). Gleich nach den ersten brasilianischen Ausgaben der Zweig-Biografie 70d im Paradies — 1981 und 1982 —bot meine inzwischen verstorbene gute Bekannte Susanne Eisenberg-Bach einem großen deutschen Verlag an, das Buch ins Deutsche zu übersetzen. Als eine der ersten Exilliteraturforscherinnen wurde Susi Bach in Ehren empfangen, musste sich aber die unbequeme Frage anhören: „Aber was soll ein brasilianischer Autor der Biografie von Stefan Zweig noch hinzufügen können?“ Zweig ist nicht nur in Brasilien gestorben. In Brasilien hat er gelitten, in Brasilien verzweifelte er. Sein letzter Hoffnungsschimmer für das Schicksal der Welt hing an Brasilien. Seine letzten Literatur Pierre Bourdieu: Les régles de !’art. Genese et structure du champ littéraire. Paris 1992. Marlen Eckl: „Das Paradies ist überall verloren“. Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus. Frankfurt a.M.: Vervuert, Iberoamericana 2010. Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer: Die Welten des Paul Frischauer. Ein „literarischer Abenteurer“ im historischen Kontext. Wien-LondonRio-New York-Wien. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 1997. Ursula Prutsch und Klaus Zeyringer (Hg.): Leopold von Andrian (1875 — 1951). Korrespondenzen, Notizen, Essays, Berichte. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003. Tage in jenem Eldorado, bereits vom Kriegsklima vergiftet - von dem Krieg, vor dem er zwei Jahre lang geflohen war —, würden als Antwort genügen. Aber Brasilien war für Zweig nicht nur wichtig, weil er dort sein Leben beendete. Seine letzten sechs Jahre - von 1936 bis 1942 — waren maßgeblich von Brasilien geprägt. Wenn man bedenkt, dass er nur wenig älter als 60 wurde, kann man sagen, dass sein „brasilianisches Leben“ erwa 15% seines erwachsenen Lebens ausmachte. Das Buch Brasilien, ein Land der Zukunft ist ein Werk, das manche Spezialisten für zweitrangig erachten: Oft wird es als „Reiseliteratur“ oder simpler Touristenprospekt abschätzig behandelt. Oder als politische Utopie, unrealistisch und undurchführbar. Seinerzeit wurde Zweig vorgeworfen, sich an den brasilianischen Diktator Getülio Vargas „verkauft“ zu haben. In dem umfangreichen Werk Zweigs ist es das Buch, das am meisten öffentlich kritisiert und angeprangert wurde. Während der vergangenen 70 Jahre wurde der „Hauptperson“ (Brasilien) immer wieder das Epitheton „Land der Zukunft“ angehängt. Dieser Beiname steht nun gleichermaßen im Dienste der Optimisten wie der Pessimisten, der Skeptiker wie der Enthusiasten. Der ehemalige Präsident Lula, ein großer PR-Spezialist, hat den Ausdruck unzählige Male benutzt, und nach dem miserablen Auftritt der brasilianischen Nationalmannschaft bei der WM 2010 wurde manch ein Kommentator dazu verleitet, die Zukunft als noch weit entfernt zu behaupten... Übrigens hasste Zweig Massensportveranstaltungen und sein vielleicht größter Fehler war zu glauben, Brasilien könne dafür keine Begeisterung aufbringen. Aber sonst hatte er recht. Brasilien war nicht nur ein angenehmer Zwischenstopp auf einer Reise, deren Ziel Zweig als äußerst unangenehm empfand: das PEN-Club-Treffen in Buenos Aires 1936, bei dem politische Themen auf der Tagesordnung standen —- und Zweig hasste Politik. Viel früher schon hatte er sich für die Neue Welt interessiert. Ich beziehe mich dabei nicht auf die kurze Reise, die er 1911 nach Zentral- und Nordamerika und in die Karibik unternahm, gleich nach seiner Fahrt in den Orient 1911 — beide auf Empfehlung seines 14 Jahre älteren Freundes Walter Rathenau, er solle erst die Welt kennenlernen, ehe er über sie schreibe. Damals war der Orient noch das obligatorische Reiseziel, etwa wie Griechenland und Italien im 19. Jahrhundert. Alle schrieben Dezember 2013 45