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Da Carpeaux im Lauf seines gelungenen Integrationsprozesses sich immer mehr von den anderen Fxilanten distanzierte und fast keinen Kontakt mehr zu ihnen unterhielt, erstaunt es nicht, dass er sich den in Brasilien vorhandenen, sich für die Unabhängigkeit Österreichs einsetzenden Gruppierungen nicht mehr anschloss. Dennoch setzte er sich nach Stefan Zweigs Freitod im Februar 1942 für die Aufklärung eines eventuell folgenschweren Missverständnisses einsetzen. In der portugiesischen Übersetzung von Zweigs Abschiedsbrief war der Schlusssatz („Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht!“”?) weggelassen und in dieser Fassung zunächst in den einheimischen und internationalen Medien verbreitet worden. Damit wurde die letzte Botschaft des Schriftstellers der Manifestation der Hoffnung beraubt, und es dominierte der Heimat- und Vertrauensverlust in die Zukunft als Motiv des Selbstmords, was dem Ansehen des Schriftstellers teilweise schadete.”* Zwar vermochte Carpeaux in seinen Arbeiten eine gewisse Geringschätzung für Stefan Zweig nicht zu verbergen. Er bezeichnete ihn nicht nur als einen „Meister dieses kleineren Gentes [sic]“”° (Carpeaux meinte damit die romanhafte Biographie, M.E.). Zweigs Novellen seien seiner Ansicht nach gut gemacht, „aber die hohe literarische Qualität ist mehr Schein als Realität.“ Ungeachtet dessen veranlasste er der Wahrheit verpflichtet den Abdruck des vollständigen Briefes und damit die Richtigstellung von Zweigs Abschiedsbotschaft. Nicht nur wegen seines kulturpublizistischen Schaffens genoss Carpeaux hohes Anschen. Sein politisches Engagement während der Militärdiktatur machte ihn darüber hinaus zu einer Kultfigur der Studentenbewegung und Arbeiterschaft des Landes. Als im Frühjahr 1964 das konservative Militär putschte, sah der Publizist die Freiheit im Land gefährdet und wollte nicht untätig bleiben. Wie schon über 30 Jahre zuvor für seine alte Heimat Österreich engagierte er sich nun auch für seine neue, Brasilien. Da sich die direkte Bezugnahme verbot, geißelte er die Willkür und die Unterdrückungsmaßnahmen der Militärdiktatur, indem er die Vorgänge anhand anderer, ebenfalls unter einer Diktatur stehender Länder und mithilfe von Parallelen zu der Vergangenheit des Landes verdeutlichte. Zwischen 1937 und 1945 gab es keine unabhängige öffentliche Meinung in Brasilien. Die Meinung hing ausschließlich von den Informationen ab, die der DIP [Departamento de Imprensa e Propaganda, die vom Diktator Getulio Vargas geschaffene Presse- und Propagandabehörde, M.E.] lieferte: und dieser wählte die Neuigkeiten nach offenkundigen Kriterien aus. Er förderte die Unkenntnis von Fakten. Vergangene Zeiten? Unglücklicherweise nicht. Denn jene falsche Vorstellung scheint stark in den Köpfen verankert zu sein. Die Anwesenheit von Persönlichkeiten von 1937 bei den Ereignissen 1964 ist auffällig, aber dies erklärt nicht alles. Viel wichtiger sind die bestimmten Ideen von 1937 in bestimmten Handlungen von 1964. Bezüglich der Herkunft dieser Ideen halten es die Beteiligten für besser, diese nicht bekannt zu machen.” Weil Carpeaux das Regime von General Castelo Branco nicht namentlich und direkt angriff, hatten die Zensoren keine Handhabe gegen ihn und mussten daher ohnmächtig zuschen, wie er seine Kolumnensammlungen 1965 herausgab. Als man ihm jedoch auf Basis weiterer Gesetze zur Nationalen Sicherheit die Bedingungen für seine kulturpublizistische Arbeit zunehmend erschwerte und ihn 1967 der Störung der öffentlichen Ordnung beschuldigte, beschloss er mit dem Auswahlband Vinte e cinco anos de Literatura, 25 Jahre Literatur, 1968 einen Schlussstrich unter 50 ZWISCHENWELT sein literaturwissenschaftliches Werk zu ziehen: „Ich betrachte diesen Zyklus [d.h. den kulturellen, M.E.] für abgeschlossen. Mein Kopf und mein Herz befinden sich an einem anderen Ort. Was mir an Arbeitsmöglichkeiten verbleibt, gehört Brasilien und dem Kampf für die Befreiung des brasilianischen Volkes.“”® Das ihm von der Militärdiktatur schließlich auferlegte Schweigen und der damit verbundene Rückzug vom Journalismus, sein „zweites Exil“, wie es Drummond de Andrade nannte”, hinderten Carpeaux nicht am politischen Engagement. Mit leidenschaftlichen und kämpferischen Reden, die enthusiastisch aufgenommen wurden, klagte er vor Studenten und linken Gruppierungen die Unrechtmäßigkeit des Regimes an. In seinen Augen war es die Aufgabe der Studentenschaft, die Rolle des Gewissens der ganzen Nation zu übernehmen. Er rief sie zum zivilen Widerstand auf. Im brasilianischen Exil hatte sich eine unübersehbare Wandlung vom klerikal gesinnten Apologeten des Austrofaschismus zu einem Sympathisanten einer links gerichteten Politik und einem „Mann ohne Religion“? vollzogen. Die anfänglich gegenüber dem Zufluchtsland gehegten Vorbehalte waren am Ende seines Lebens ebenfalls vergessen. Heute sehe ich meine europäische Vergangenheit wie durch einen dichten Schleier. [...] Weil dies so ist, spreche ich über mein Leben in Europa, als sei es das Leben eines anderen. Ich leugne nicht und würde auch nie [...] die starken Bande leugnen, die mich aufgrund des geistigen Erbes und der Erziehung an Europa binden. Aber all dies ist heute in ein Gefäß mit neuen Konturen gegossen. Ich fühle mich brasilianisch, mag Reis und Bohnen [das sind die Hauptzutaten des brasilianischen Nationalgerichts feijoada, M.E.], und bin ein Fan von Ouro Préto [sic]. [...] was während so vieler Jahre in Europa keinen Sinn zu machen oder definitives Ziel zu haben schien, fügte sich später so sehr in die Struktur ein, dass sich mir mein Leben heute darstellt, als wäre es die Handlung eines Romans, eines gut erfundenen „Plots“ Dr. Marlen Eckl, Historikerin und Literaturwissenschaftlerin. Magisterstudium der Komparatistik, Judaistik und Jura in Mainz, Ulpan und Hochschulferienkurs fir fiidischen Studien und Israelwissenschaften in Beer Sheva sowie Doktoratsstudium der Geschichte an der Universität Wien. Zur Zeit Wissenschafilerin am Laboratério de Estudos sobre Etnicidade, Racismo e Discriminagao (LEER) der Universidade de Sao Paulo und Mitglied der Forschungsgruppe Relagöes Linguisticas e Literärias Brasil-Alemanha (RELLIBRA) der Universidade de Sao Paulo und des Instituto Martius-Staden ($40 Paulo). Hauptforschungsgebiete: deutschsprachiges Exil in Brasilien, Geschichte Brasiliens von 1933-1945 und die brasilianisch-jüdische Literatur des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Publikationen zu unterschiedlichen Aspekten des deutschsprachigen Exils in Brasilien und zu einzelnen Exilanten, u.a. Stefan Zweig, Heinrich Eduard Jacob, Ulrich Becher, Ernst Feder, Richard Katz, Otto Maria Carpeaux und Anatol Rosenfeld. Buchpublikationen: „Das Paradies ist überall verloren.“ Das Brasilienbild von Flüchtlingen des Nationalsozialismus (2010); (Hrsg. mit Sylvia Asmus) „... mehr vorwärts als rückwärts schauen...“ Das deutschsprachige Exil in Brasilien 1933-1945./“... olhando mais para frente do que para tras... “ O Exilio de lingua alemé no Brasil 1933-1945 (2013); (Hrsg.) „... auf brasilianischem Boden fand ich eine neue Heimat.“ Autobiographische Texte deutscher Flüchtlinge (1933-1945) des Nationalsozialismus (2005).