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Er fastete an allen fünf Fasttagen, natürlich am Jom Kippur und am Tischa Be’v. Im 1. Weltkrieg wurde er als Soldat eingezogen, brachte es sogar bis zum Zugsführer, blieb aber bei der Logistik und musste nicht an die Front. Meine Mutter, als Ella Kohn 1905 in Wien geboren, war über zwei Jahrzehnte eine wichtige Beamtin des Matrikelamts der Israclitischen Kultusgemeinde Wien. Das heißt, dass sie so gut wie alle Geburts-, Heirats- und Todesurkunden der jüdischen Familien in Wien mit ihrer schönen Handschrift ausstellte. Auch meinen eigenen Geburtsschein, in dem sie meine beiden Vornamen in der englischen Schreibweise eintrug, denn sie bewunderte George Bernard Shaw. Ihre Familie war auch jüdisch und fromm, hatte aber ihren Kindern schon bei ihrer Geburt neutrale Namen gegeben, wie Ella, Elise, Leo, usw. Letzterer würde in der Geschichte unserer Familie noch eine schr wichtige Rolle spielen, wie sich im Folgenden zeigen wird. Meine Eltern heirateten spät, im Jahr 1933. Mein Vater war damals schon 51 Jahre alt, meine Mutter 38. Eine ihrer Tanten, die Tante Sara, die sich als laienhafte Ehevermittlerin verstand, sagte, sie hätte ihr Lebenswerk vollbracht, als sie Max und Ella zusammenführte. Im Februar 1934 wurde mein Bruder Fred geboren. Ich glaube, dass unsere Familie damals zu einer gehobenen Mittelschicht gehörte. Wir hatten Porzellangeschirr, vierfach, einmal milchig und fleischig für das gesamte Jahr und dann nochmals eine doppelte Ausstattung für die Pessachwoche. Das Gleiche galt für das Besteck, von dem ein Teil silbern war. Mein Vater konnte sich sogar den Luxus leisten, in der Küche unserer Wohnung eine Badewanne einbauen zu lassen, damit wir — zur Empörung unserer Nachbarn - nicht nur einmal monatlich baden könnten. Wir leisteten uns auch ein Dienstmädchen, die Poldi genannt wurde. Sicherlich hieß sie Leopoldine. Sie liebte uns heiß und innig und dürfte bittere Tränen geweint haben, als wir Wien verlassen mussten. Wie es dazu kam, muss ich hier niemandem erklären. Der oben erwähnte Leo Kohn, der einzige Bruder meiner Mutter, hatte sich während des 1. Weltkriegs als Einjährigfreiwilliger gemeldet und kam an die Front. Der Horror, den er dort erlebte, und die Furcht vor einem zweiten Weltkrieg überzeugten ihn, zusammen mit seiner Frau Elsa, geborene Frankl, Österreich zu verlassen und in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nach Argentinien auszuwandern. Später erzählte man in unseren Familien, er hätte sich dieses Land ausgesucht, weil dort die am 25. Mai — dem argentinischen Nationalfeiertag — geborenen Männer vom Wehrdienst befreit seien. Onkel Leos Geburtstag fiel auf den 25. Mai. Da das Ehepaar Kohn aber wusste, dass es auch in Argentinien Antisemitismus gab — und bis heute noch gibt —, gebrauchten sie einen Trick, um den auffällig jüdischen Familienamen Kohn in ein neutrales Kolm zu verwandeln. Reisepässe waren zu jenen Zeiten handschriftlich ausgefüllt; so konnten sie das letzte Häkchen des Buchstabens 5 als ein erstes Häkchen des Buchstabens m mühelos lesen lassen. Von nun an hießen sie also nicht mehr Kohn sondern Kolm. Argentinien war fiir die Familien Frankl und Kohn bzw. Sperber ein méglicher sicherer Hafen. Und Argentinien war damals in Amerika nach den USA das Land, das am meisten jüdische Flüchtlinge aufnahm. Allerdings brauchte man, um ein Einreisevisum zu erhalten, ein Affidavit, eine beglaubigte Biirgschaftserklarung. Und man brauchte Geld, um die Reise und den Umzug zu bezahlen. Das Ehepaar Leo und Elsa Kolm, geborene Frankl, hatte in der Zwischenzeit ein schickes, wenn nicht sogar das schickste Modegeschäft in Buenos Aires gegründet. Es nannte sich „Yerlaine“ und war auf der zu jenen Zeiten besten Straße der Stadt, genannt Florida, knapp gegenüber dem Kaufhaus Harrod’s. Leo und Elsa Kolm stellten sukzessive Affidavits fiir die gesamte Familie Frankl aus. Und bezahlten auch die Reise- und Umzugskosten (oder beteiligten sich an der Bezahlung). So konnten in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre die Eltern von Elsa Kolm, Salomon und Rosalie Frankl (beide in ihren Achtzigern), Elsas Schwestern Emma (mit Kindern Kurt, Fritz und Gertrud), Malwine (mit Ehemann Salomon Raab und Kindern Heinrich und Eveline), Judith (mit Ehemann Adolf Bild) und deren Bruder Albert (damals unverheiratet) nach Argentinien ausreisen. Ein anderer Bruder von Elsa Frankl namens Josef, ein Busenfreund von Leo Kohn, war schon Ende der zwanziger Jahre nach Südamerika ausgewandert. Dieser Josef Frankl wurde später mein Schwiegervater — aber das ist eine andere Geschichte, zu der ich später kommen werde. Kein Mitglied der Familie Frankl, kein Verwandter der Elsa Kolm, geborene Frankl, verblieb in Europa. Ende der dreißiger Jahre waren aber Verwandte meines Onkels Leo noch in Wien. Das waren meine Eltern, also seine Schwester Ella und deren Mann Moses (Max), mein Bruder und ich. Auch die Eltern meiner Mutter waren noch in Wien. Auf der Seite meines Vaters gab es in Wien nur seinen Bruder Siggi, der später nach Shanghai auswanderte und sein Leben zusammen mit seiner Frau in Israel beendete. Alle anderen Geschwister meines Vaters waren schon tot. Als letzter war in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre in Berlin mein Onkel Bernhard gestorben. Er war zu einigem Reichtum gekommen und hatte Mitte der zwanziger Jahre in Berlin eine anschnliche Siedlung bauen lassen, mit den Namen Gartenstadt Atlantic. Mein Vater musste sich als Teilerbe 1936 mit einer geringen Entschädigung zufrieden erklären. Er war keinesfalls damit zufrieden, aber zu jenen Zeiten gab es keine großen Chancen, vor Gericht zu gehen. Diese Gartenstadt gibt es bis heute und gehört jetzt den Erben eines minderen Gesellschafters meines Onkels... Die Parfümerie meines Vaters wurde im Mai 1939 arisiert. Sie wurde von einer gewissen Frau Maria Höller, die seit 1933 Mitglied der NSDAP war, übernommen. Sie „kaufte“ den Laden für 800,- Reichsmark und übernahm angebliche Geschäftsschulden in der Höhe von 1.190,30 Reichsmark. Ich habe keine Ahnung, was diese Summen als Kaufkraft bedeuteten. Sicherlich schr wenig. Meine mütterlichen Großeltern verzichteten auf eine Emigration, denn sie meinten, zu alt dafür zu sein. In der Tat starb mein mütterlicher Großvater zu jener Zeit, angeblich eines natürlichen Todes. Meine mütterliche Großmutter, Amalie Kohn, kam dann ins Konzentrationslager Theresienstadt, wo sie vor Kriegsende starb. Zu dieser Zeit dürften wir wohl endlich das Affidavit und das argentinische Visum für unsere Ausreise erhalten haben. Wir hatten vor, wie die meisten Flüchtlinge, die nach Argentinien fuhren, von Genua aus mit einem italienischen Schiff zu reisen. Nun trat Italien, unter der Herrschaft Benito Mussolinis, im Juni 1940 an der Seite Adolf Hitlers in den Krieg ein. Sämtliche Passagierschiffe wurden konfisziert, und die Reisekarten, die wir schon in den Händen hatten, waren wertlos. Welcher Weg stand uns noch offen? Der Weg über die westeuropäischen Länder war gesperrt, da die deutschen Truppen schon fast alle Gebiete auf dieser Seite des Kontinents besetzt hatten. Das Frankreich der Vichy-Regierung kam nicht in Frage. Auch Spanien unter Franco und Portugal unter Salazar waren ausgeschlossen. Dezember 20138 61