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Es war aber, erstaunlicherweise, ein Fenster in der Geschichte geöffnet worden. Denn am 24. August 1939 wurde der deutschsowjetische Nichtangriffspakt, bekannt als Hitler-Stalin-Pakt, unterzeichnet. Die Grenze zwischen den von den deutschen und den von den sowjetischen Truppen besetzten Gebieten blieb weniger als zwei Jahre offen. Und durch dieses Fenster der Geschichte konnten wir uns vor dem sicheren Tod retten. Wir hatten deutsche Reisepässe in der Hand, mit Adler und Hakenkreuz an allen Ecken und Enden und einem großen JStempel auf der ersten Seite. Ich erschien im Pass meiner Mutter, auf einem Foto, in dem ich von den Händen meiner Großmutter gehalten werde. Dieses Bild ist mir unvergesslich geblieben, obwohl der Pass von den österreichischen Behörden behalten wurde, als ich viele Jahre später in Buenos Aires einen neuen beantragte. Zuerst fuhren wir mit der Bahn von Wien nach Berlin. Ja, nach Berlin, in den Rachen des Löwens oder in den Schnabel des Naziadlers. Wir hatten jedoch unsere gültigen Pässe, unsere gültigen Visa. Damit konnten wir in Berlin in einen anderen Zug umsteigen, der uns bis Moskau führte. Während der Reise durch das europäische Russland mussten die Jalousien der Fenster immer geschlossen bleiben. Es war offensichtlich, dass die Sowjets ihre Kriegsvorbereitungen verbergen wollten, denn der deutschsowjetische Nichtangriffspakt war ja nur ein Trick, beiderseits Zeit zu gewinnen, um sich auf den Krieg gegeneinander vorzubereiten. Solche Reisen wurden von einer amerikanischen Institution, genannt JOINT (American Joint Distribution Committee), die es bis heute gibt, in Gruppen organisiert. Ich glaube, dass unsere Gruppe aus circa fünfzig Personen bestand, die aus Österreich und Deutschland kamen. Wenn ich mich an die Erzählungen meiner Eltern richtig erinnern kann, kamen wir Österreicher früher als die Deutschen in Moskau an und mussten so um die zwei Wochen auf sie warten. Die jüdische Gemeinde in Moskau kümmerte sich rührend um uns, zeigte uns die Stadt, vielleicht den Roten Platz und den Kreml von außen und sicherlich die neuen U-Bahnen, auf die sie damals mit Recht stolz waren. Irgendwann waren die deutschen Glaubensgenossen dann in Moskau angekommen, und die Reise konnte weitergehen, diesmal mit der Transsibirischen Eisenbahn, auf dem Weg nach Charbin. Diese Stadt liegt 6.116 Kilometer von Moskau entfernt. Sie wurde 1898 — nach der Besetzung der nördlichen Mandschurei durch Russland — als Bahnstation der Transmandschurischen Eisenbahn von Russen gegründet, war aber damals, als wir dort ankamen, und zwar seit 1932, von japanischen Truppen besetzt, die sie zur Hauptstadt Mandschukuos machten, einem Marionettenstaat, in dem die Japaner den letzten chinesischen Kaiser wieder auf einen Ihron gesetzt hatten. Dort stiegen wir in einen japanischen Zug um. Nach den Erzählungen meiner Eltern war dies eine regelrechte Erholung. Denn alle unsere Bahnreisen waren 3. Klasse, auf Holzbänken, mit sehr mangelhaften Toiletten und einer so gut wie nicht existierenden Verköstigung. In den verschiedenen Städten der Sowjetunion, wo unser Zug hielt, kamen oft Vertreter der dortigen jüdischen Gemeinden zum Zug, denn sie wussten, dass in ihm jüdische Flüchtlinge fuhren. Sie brachten Nahrungsmittel, möglicherweise sogar koschere, und mein Vater war von der Gruppe auserwählt worden, um diese Speisen unter den mitfahrenden Juden zu verteilen. Eine heldenhafte Rolle! In meinem Gedächtnis taucht mein Vater auch als Dolmetscher auf, denn er hatte ja in seiner Kindheit in der Bukowina einige Kenntnisse der russischen Sprache erlernt. Aber meine Mutter war auf dieser Reise und auf den folgenden 62 _ ZWISCHENWELT Strecken, von denen ich bisher noch nichts erzählt habe, auch eine Heldin. Man muss sich vorstellen, dass ich als zweijähriges Kind noch Windeln brauchte. Die waren damals sicherlich aus Stoff und mussten gewaschen und getrocknet werden. Wie hat sie das geschafft? Womit hat sie mich ernährt? Womit haben wir alle uns ernährt? Möglicherweise bin ich damals, als ich sicherlich nicht genügend Milch bekam, an Rachitis erkrankt, die zu einer doppelten Rückgratverkrümmung führte, unter der ich heute noch leide. Die japanische Bahn, in die wir in Charbin einstiegen, änderte unsere Fahrtrichtung. Vorher ging es von Westen nach Osten. Nun ging es von Norden nach Süden, durch das von den Japanern ebenfalls besetzte Korea. Möglicherweise durch Pjöngjang und Seoul bis zur Hafenstadt Pusan. Von dort aus ging es mit einer Fähre nach Japan, möglicherweise nach Yokohama. Von dort wieder mit der Bahn nach Kobe. Und von Kobe (ich weiß es nicht genau) endlich mit einem Schiff namens „Arabia Maru“ nach Argentinien. Eigentlich sollten wir mit der viel neueren „Brasil Maru“ reisen, aber die war schon weggefahren, als wir mit erheblicher Verspätung in Japan ankamen. Die „Arabia Maru“ war Baujahr 1918, wog 9.500 Bruttotonnen, war 144,80 Meter lang und 18,50 Meter breit. Als wir unsere Reise machten, war Japan noch nicht in den Krieg eingetreten. Dann kam Pearl Harbour, und am 18.10.1944 wurde die „Arabia Maru“ torpediert und versank. Diese Reise führte uns durch mehrere Länder und Häfen. Um die gesamte Reise zu beschreiben, bin ich gezwungen, auf die Weltkarte zu schauen. So glaube ich, dass die Reise in Kobe (Japan) anfıng und dann durch folgende Häfen bzw. Länder führte: Hongkong, Manila (Philippinen), Singapur, Ceylon (heute Sri Lanka), Bombay (heutzutage Mumbai genannt, Indien), Mombasa (Kenya), Lourengo Marques (heutzutage Maputo genannt, Mocambique), Port-Elizabeth (Südafrika), Montevideo (Uruguay), und Buenos Aires (Argentinien). Mein Bruder, der damals schon sechs Jahre alt war, erinnert sich an einige Vorfälle, die für ihn kurios waren. Zum Beispiel stiegen in Ceylon oder Bombay Männer aufs Schiff, die wie Frauen lange Kleider trugen. Oder in Mombasa sah er zum ersten Mal Menschen, die man Neger nannte, also Schwarze, aber sie waren gar nicht schwarz, sondern braun. Und mein Vater erzählte über ein Ereignis, das er aufder Straße in Lourengo Marques — eine sauber aussehende Stadt mit weißen Häusern — beobachtet hatte. Ein schwarzer Mann wurde von einem weißen Polizisten geprügelt, ohne sich dagegen zu wehren. Da verstand er, sagte mein Vater, was Kolonialismus bedeutet. Aber von dem, was er als Jude in Wien erlitten hatte, erzählte er niemals. Kein einziges Wort, wenn ich mich recht erinnere. Ich selbst kann mich an keinen einzigen Tag, an keinen einzigen Augenblick dieser Reise erinnern. Die Reise fing im August 1940 an und endete im November des gleichen Jahres. Rund drei Monate hat sie gedauert. Und ich war am Anfang etwas über zwei Jahre alt, knappe zweieinhalb, als sie endete. Ich glaube mich an die letzte Nacht an Bord zu erinnern, als wir mitten in der Nacht von Montevideo nach Buenos Aires fuhren. Ich glaube mich an ein ganz hell beleuchtetes Schiff zu erinnern, das vor unseren Augen in die entgegengesetzte Richtung fuhr. Es mag das „Vapor de la Carrera“ gewesen sein, das Schiff, das damals jede Nacht von Buenos Aires nach Montevideo fuhr und zurück. Aber es mag auch nur ein Bild sein, das ich aus den Erzählungen meiner Eltern im Gedächtnis behalten habe...