OCR
setzte sich natürlich bei der Polizeibehörde für ihre Landsleute ein, soweit ihr das möglich war. Sie schlug vor, dass auch ich, da ich zufällig hier war, die Inhaftierten im Dops, dem Polizeigefängnis besuchen und, wenn möglich, die Zeitungen alarmieren sollte. Ich hatte die Leute vom „Living Theater“ samt ihren „Groupies“ bereits während ihres Gastspiels in Wien kennen gelernt, das recht kontroversielle Reaktionen ausgelöst, aber zweifellos dazu beigetragen hatte, dem konventionellen Theaterbetrieb einen heilsamen Schock zu versetzen. Chester Kalman kannte Beck und Malina aus New York und lud mich zu einer Willkommens-Party für die ganze Truppe ein, die er in seiner kleinen Wiener Wohnung gab. So war ich für die Gefangenen kein völlig Fremder, der ihnen da plötzlich mitten in der brasilianischen Provinz gegenüber stand. Bei der Polizei in Belo Horizonte gab ich mich als Korrespondent großer deutscher Zeitungen aus, der eigens wegen dieser Angelegenheit die weite Reise aus Europa auf sich genommen hätte. Ich drückte meine Besorgnis aus, dass dieser Fehlgriff der Polizei Brasilien im Rest der Welt in ein ungünstiges Licht tauchen könne. Ich konnte dann tatsächlich mit Beck und Malina ein paar Worte wechseln, sie beklagten sich über die unzumutbaren Haftbedingungen - die sie bereits von einem Pressefotografen, der sie vor mir besucht hatte, höchst professionell dokumentieren ließen, um die Bilder an ihre Sympathisanten zu verteilen. Mit diesen Fotos ging ich dann zur größten Zeitung der Stadt, wo sie zusammen mit meinem und dem Statement anderer Fürsprecher über die künstlerische Größe des „Living Iheater“ tatsächlich veröffentlicht wurden. Wie ich später erfuhr, wurden Beck und Malina und das ganze Ensemble bald darauf freigelassen und beendeten ihr brasilianisches Abenteuer. Elizabeth Bishop habe ich später unter weniger dramatischen Umständen bei ihren gelegentlichen Besuchen in Rio wiedergeschen. Die Wahrsagerin Eine viel kürzere Reise führte nach Petröpolis in den Bergen unweit von Rio, wo es nicht nur den von Pedro II., dem Sohn Leopoldinas, errichteten kaiserlichen Sommerpalast und das skurrile Haus des Flugpioniers Alberto Santos-Dumont zu besichtigen gab, sondern auch den letzten Wohnsitz von Stefan Zweig, der dort als Emigrant während des 2. Weltkriegs Zuflucht gefunden hatte: Hier verfasste er seine letzten Werke - „Die Welt von Gestern“ und „Brasilien, ein Land der Zukunft“ - bis er, der für sich selber angesichts der scheinbaren Aussichtslosigkeit der politischen Situation keine Zukunft mehr sah, im Februar 1942 — zur Zeit des Karnevals — zusammen mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben schied. In Petröpolis kam es zu einem etwas melancholischen Wiedersehen mit Jandyra Heier, die ich bereits Anfang 1964 bei einem Besuch in Prag kennen gelernt hatte, wo ihre Ziehtochter Ieda an der Brasilianischen Botschaft angestellt war. Jandyra — im Gegensatz zu lIeda von dunkler Hautfarbe — war eine gesuchte Expertin der Kartomantie, die in ihrer Glanzzeit ein Liebling der internationalen Gesellschaft war und auch Hollywood-Stars beriet. Sogar dem Präsidenten Brasiliens Getülio Varga soll sie sein gewaltsames Ende vorausgesagt haben. Nach Prag war ich in Begleitung der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann gekommen und auch ihr — die sich damals in einer Krise befand — konnte Jandyra Zutreffendes sagen, was dazu beigetragen haben mag, über 68 _ZWISCHENWELT einen toten Punkt hinwegzukommen. Tatsächlich hat Ingeborg Bachmann nach dieser Reise nach Prag seit längerer kreativer Pause erstmals wieder Lyrik geschrieben, darunter das später so oft zitierte optimistische Gedicht „Böhmen liegt am Meer“. Diese Begegnung hatte in der Wohnung Jandyras und ledas stattgefunden, deren Eleganz in wohltuendem Kontrast zu unserem ungeheizten Hotelzimmer im eiskalten nebligen Prag stand. Als ich jetzt, Jahre später, erfahren hatte, dass Jandyra und Ieda in Petropolis lebten, wollte ich die freundschaftliche Beziehung wieder aufleben lassen. Bei Geyerhahn — einer Buchhandlung in Rio, bei der man deutschsprachige Neuerscheinungen finden konnte - hatte ich den eben herausgekommenen Roman „Malina“ entdeckt, auf dessen Cover ein Porträtfoto der Autorin zu sehen ist. Ich wollte das Buch Jandyra bringen, zur Erinnerung an das vor sieben Jahren von ihr erstellte Horoskop. Ich fand sie und Ieda in bescheidener Untermiete vor, die gediegenen Möbel aus Prag längst verkauft, denn Ieda hatte ihre Position verloren und besaß keinen diplomatischen Status mehr. Die beiden fristeten jetzt ihr Dasein von der spärlich gewordenen Kundschaft, die bei Jandyra noch Horoskope bestellte. Das mitgebrachte Buch beachtete sie kaum. Vor allem war sie daran interessiert, dass sowohl ich als auch meine brasilianische Begleiterin bei dieser Exkursion unsere Horoskope gegen prompte Bezahlung erstellen ließen. Sie sagte uns also etwas über die Zukunft voraus — mechanisch und ohne jene besondere Aura, die sie früher erzeugen konnte — und kassierte ihren Obolus. Draußen wartete bereits der nächste Kunde. Der Filmpionier Eine Wiederbegegnung gab es auch 1977 in Rio mit einem der außergewöhnlichsten Emigranten und Remigranten, den das Land hervorgebracht hat: Alberto Cavalcanti, der brasilianische Regisseur und Filmpionier, zu dessen 80. Geburtstag eine Retrospektive seiner Arbeiten vorbereitet wurde. Dazu sollte ein Kompilationsfilm mit Auszügen aus seinen wichtigsten Filmen erstellt werden, „Um homem e o Cinema“. Cavalcanti konnte tatsächlich auf eine beispiellose Karriere zurückblicken, die fast die ganze Entwicklungsgeschichte des Films umspannt: Noch vor Ende des 1. Weltkrieges schlug er eine diplomatische Karriere in den Wind, verließ seine — was den Film betrifft — unterentwickelte Heimat und ging nach Paris, um dort als Assistent und Filmarchitekt für Regiegrößen wie Marcel UHerbier und Louis Delluc zu arbeiten. In den Zwanzigerjahren wurde er selber zu einem der Wortführer der französischen Filmavantgarde und drehte mehrere experimentelle Stummfilme - in einigen trat Jean Renoir als Schauspieler auf-, die bis heute zum unverzichtbaren Repertoire der Cinematheken zählen. 1934 dann eine radikale Wendung: Er ging nach England, wo John Grierson den Boden für einen gesellschaftskritischen Dokumentarfilm — ein bisher vernachlässigtes Genre — vorbereitet hatte. Grierson verpflichtete Cavalcanti für seine „G.PO. Film Unit“ als Regisseur und Produktionsleiter. So entstanden Klassiker wie „Coal Face“ oder „Night Mail“, mit Texten von W.H. Auden und Musik von Benjamin Britten, die Cavalcanti für seine Filme gewinnen konnte. Während des 2. Weltkriegs drehte er Anti-Nazi Filme für die Royal Navy und später mehrere erfolgreiche Spielfilme. 1950 dann - er wird es oft bereut haben - eine vielversprechende Neuorientierung: Cavalcanti ging zurück nach Brasilien, ein Konsortium von Industriellen, die in Säo Paulo eine international