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Erinnerungen, von historischer Erzählung und wissenschaftlicher Reflexion, wie von Peter Lösche angekündigt, „ein stilistischer, literarischer und intellektueller Genuss“ ($. 15). Hanna Papanek: Elly und Alexander. Revolution, Rotes Berlin, Flucht, Exil- eine sozialistische Familiengeschichte. Aus dem Englischen von Joachim Helfer und Hannah C. Wettig. Mit einem Vorwort REZENSIONEN von Peter Lösche. Berlin: vorwärts buch 2006. 580 S. mit zahlreichen s/w -Abbildungen. Anmerkungen 1 Die OSE (Organisation pour la Sante et Education) war eine jüdische Wohlfahrtsorganisation, siehe Inge Hansen-Schaberg: Die Wiener Schulreform und ihre pädagogische Umsetzung durch Ernst Papanek in den OSE-Kinderheimen in Frankreich. In: Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands 17 (2000), Nr. 2, S. 10-14; und in: Mitteilungen & Materialien 53/2000, S. 88-99. 2 Der amerikanische Begriff agency” bedeutet im Verständnis von Hanna Papanck, „die eigene Kraft durch politische Arbeit einzusetzen, sich in der Öffentlichkeit zu Wort zu melden [...]“ (S. 178), siehe dazu auch ihre Ausführungen S. 178 ff. Alfred Grünewald, 1884 in Wien geboren, wuchs behütet in einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Von Kindesbeinen an kam er mit poetischer Sprache und literarischen Texten in Berührung. Neben seinem Brotberufals Architekt veröffentlichte er ab 1907 erste Gedichte und Balladen in Zeitungen und Zeitschriften wie „Die Muskete“, „Die Fackel“ und der „Arbeiter-Zeitung“. Er hinterließ Texte aus allen Gattungen: Lyrik, Theaterstücke, (Kurz-)Prosa und Aphoristik. Weder im Privatleben noch in seiner Literatur verschwieg Alfred Grünewald seine Liebe zu männlichen Jugendlichen und jungen Männern, die ihn ästhetisch und erotisch gleichermaßen anzogen. Aus seinem persönlichen homoerotischen Begehren wollte er jedoch nie ein Politikum machen und lehnte gesellschaftlich-politisches Engagement für die Emanzipation Homosexueller ab. Als Jude und Homosexueller durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten an Leib und Seele bedroht, unternahm er am Abend des 11. März 1938 einen Suizidversuch, den er dank der Intervention einer Nachbarin überlebte. Seine Retterin sollte sich ein halbes Jahr später als Verräterin entpuppen, die ihn bei der Gestapo denunzierte: Am 10. November 1938, der Nacht des Novemberpogroms, wurde Alfred Grünewald von den Nazis inhaftiert und ins KZ Dachau deportiert. Es folgte die Freilassung Anfang 1939, unter Verpflichtung, umgehend aus Deutschland zu emigrieren. Nach etlichen Anläufen gelang die illegale Flucht in die Schweiz, von wo er sich bis ins südfranzösische Nizza durchschlug. Er freundete sich mit dem sozialistischen Schriftsteller Kurt Hiller an und wurde Mitglied im „Freiheitsbund deutscher Sozialisten“. Zunächst konnte er im Exil sein schriftstellerisches Werk fortsetzen, obwohl er immer wieder in verschiedenen camps de rassemblement festgehalten wurde und in Nizza in armlichsten Verhaltnissen leben musste. Von den Vichy-Kollaborateuren an die Nazis ausgeliefert, transportierte man Alfred Griinewald im August 1942 vom Internierungslager Les Milles nach Drancy, von wo er mit einem der Todestransporte nach Auschwitz verschleppt und, vermutlich am 9. September, ermordet wurde. In den hier besprochenen Sammelbänden zu Lyrik und Kurzprosa Alfred Grünewalds findet sich auch die Erstveröffentlichung der Novelle „Reseda“. Umfangreiche werkbiographische Aufsätze von Volker Bühn stellen die Gedichte und Prosastücke in ihren sozialgeschichtlichen Kontext und analysieren die Spezifika der Grünewaldschen Liebeskonzeption. Erschienen sind die Lyrik- und Prosabände im Hamburger Männerschwarm Verlag als Teile der Reihe „Bibliothek rosa Winkel“, die wissenschaftliche Abhandlungen zur Geschichte homosexueller Identitäten und Lebenskonzepte, homoerotischer Kultur und Literatur der griechischen Antike sowie Schriften zu homo-, bi-, und transsexuellen Befreiungsbewegungen versammelt. Alfred Grünewalds Gedichten liegt eine romantische Programmatik zugrunde. Die Kindheit mit ihrem Zauber als nicht versiegende Fantasiequelle, die Macht der Träume, Schwärmerei für die Magie geheimnisvoller Naturorte und die Sehnsucht nach der Schönheit unerreichbarer, angebeteter junger Männer sind wiederkehrende Elemente seiner Lyrik. Im ersten Quartett des „Sonett V“ aus den „Sonetten an einen Knaben“ heißt es: Gib dem Zerrissenen ein einig Leben. Begehren schlug mich. Jeder Lust Beginn war schon wie Müdigkeit. Sag mir den Sinn von allem Wandel, dem ich mich ergeben.' Stets scheint sich das lyrische Ich durch die Macht innerer Widersprüche und äußerer Gegenkräfte aufzulösen. Die beiden Schlussterzette des Sonetts offenbaren die emotionale Getriebenheit des lyrischen Ichs, das sich einer Lust am Leiden hingibt und, verzehrt von Einsamkeit und Melancholie, einer Todesbereitschaft Ausdruck verleiht. LJ] von Nacht ermattet und von Nacht verführt, bin ich ein Flüchtender auf tausend Wegen; dem Tod entronnen, neuem Tod entgegen. Sag meinen Spruch: Ist dieses Los besiegelt? In der Sammlung Dithyrambischer Herbst ist der Titel Programm — Gedichte wie Lobeshymnen an die Vergänglichkeit der Liebe, in denen sich das lyrische Ich zu Beginn fragt: „Hab ich mein Herz veratmet?“, um den Selbst-Dialog mit den Versen „War ich vor langem ein Lied?/ Ich hab mich verflüstert“ zu beschließen. Explizit wendet sich das Iyrische Ich an einen männlichen Geliebten und artikuliert ein Empfinden, das permanent bedroht wird. In „Der Schwärmer“ lautet eine Frage: „Kann dies Fühlen zu verdammen sein?““, in „Der Zweifel“ beginnt das lyrische Ich seine Rede mit „Ist verwerflich mein Begehren [...]?“°. Es sind dies Verse, die von der Verteidigung und Rechtfertigung des eigenen, von der gesellschaftlich propagierten Moral angefeindeten und verurteilten Begehrens zeugen. Noch prominenter gestaltet sich der Topos des Außenseiter-Daseins in den KurzprosaStücken Grünewalds. Die „Andersartigkeit“ der Protagonisten artikuliert sich häufig in deren Verhalten und Aussehen, das durch tierische Attribute auffällt. Herr Bedölk aus „Der Herr mit dem Entenschnabel“ setzt sich gegen seine diskriminierende Umgebung mit spitzer Zunge gekonnt zur Wehr. Während eines Banketts desavouiert er die Minderwertigkeitskomplexe der großbürgerlich-feinen Mitglieder einer gediegenen Abendgesellschaft. Der 15-jährige Schüler Heinrich wiederum tritt als hilf- und wehrloses Mobbing-Opfer auf, das von seinen sadistischen Mitschülern als „weicher Junge“ oder „Qualle“ bezeichnet wird. Frust, Aggression und eine sauertöpfisch-misanthropische Stimmung plagen den über 50-jährigen Buchhalter Reseda aus der gleichnamigen Novelle. Der extrem pflichtbewusste Pedant wird wahnsinnig und beißt einem jungen Verehrer die Dezember 2013 75