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Kehle durch. Das verdrängte, nicht ausgelebte homoerotische Begehren, die jahrzehntelang unterdrückten Freiheits- und Ausbruchsimpulse entladen sich in der grässlichen Mordtat. In „Der Page“ schließlich verliebt sich Ferdinand in den auf einer Konfektreklame abgebildeten Jüngling. In heftiger Schwärmerei verzehrt sich der Jugendliche nach dem zur Ikone hochstilisierten Bild, seine Liebe freilich bleibt unerwidert. Damit klingt die Situation des heimlich begehrenden Homosexuellen an, der im Sturm der Emotionen einsam und auf sich selbst zurückgeworfen bleibt. Hinweis: In ZWNr. 2/2013, S. 28-32, erschien Volker Bühns Aufsatz „Alfred Grünewald: Exil in Nizza“. Judith Aistleitner Alfred Grünewald: Sonette an einen Knaben und andere Gedichte. Hg. von Volker Bühn. Hamburg: Männerschwarm Verlag 2013. 259 S. Euro 18,(Bibliothek rosa Winkel Bd. 64). Alfred Grünewald: Reseda. Novelle und andere Prosa. Hg. von Volker Bühn. Hamburg: Männerschwarm Verlag 2013. 204 S. Euro 16,45 (Bibliothek rosa Winkel Bd. 65) Anmerkungen 1 A. Grünewald: Sonette an einen Knaben und andere Gedichte. Hamburg 2013, 13. 2 Ebda. 3 Ebda., 44. 4 Ebda., 163. 5 Ebda., 180. Das beinah unüberschaubare Buchangebot zur diesjährigen Leipziger Buchmesse Mitte März bot auch einige echte Überraschungen. So stellte der Europa Verlag Zürich den von Hendrik Eberle und Julia Killet herausgegebenen Erstlingsroman von Arthur Koestler in einer angemessen noblen Aufmachung vor — den von den Herausgebern in einem Moskauer Archiv gefundenen Exilroman: Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration. In Koestlers 1982 verfassten Aufzeichnungen Als Zeuge der Zeit- schreibt er dazu: „Nachdem ich beschlossen hatte, Kommunismus nicht zu meinem Beruf zu machen, setzte ich mich hin und schrieb nacheinander zwei Bücher. Das eine war mein erster Roman, der nie gedruckt wurde, das zweite wurde unter dem Pseudonym Dr. A. Costler ein Welterfolg...“ (Frankfurt/M. 2005, 5.201). Das Erfolgsbuch war ein Sexuallexikon. Das Manuskript hatte Koestler ursprünglich 1934 für einen literarischen Wettbewerb der Büchergilde Gutenberg verfasst, war aber damit nicht in die engere Wahl gekommen. Die Jury hatte zumindest den Ankauf empfohlen, was wohl durch die politischen Wirren der nachfolgenden Jahre und Koestlers turbulenten Lebensweg nicht realisiert wurde. Die Herausgeber geben dazu im Nachwort ausführliche Erläuterungen, besonders auch den Inhalt des Romans betreffend. Die Handlung beschreibt distanziert-kritisch das Leben in einem von einer jüdischen Flüchtlingshilfe-Stiftung in der Nähe von Paris organisierten Kinderheim für Emigrantenkinder. „Genosse Piepvogel“ ist eigentlich der Spitzname für einen der dort lebenden Jungen —- und werbewirksam bis heute — von Koestler zum spöttisch-reißerischen Buchtitel erkoren. Wie aus dem Nachwort zu entnehmen ist, hatte Willi Münzenberg für eine der von ihm im Exil herausgegebenen Publikationen Artur Koestler zur journalistischen Berichterstattung in das Kinderheim geschickt, wo dieser sich dann etwa zwei Monate als Helfer und Betreuer aufhielt. Inwieweit seine Romanhandlung auf den dortigen Beobachtungen basiert, erläutern die Herausgeber recht detailliert. 76 ZWISCHENWELT Die Einschätzungen Koestlers stehen allerdings im schroffen Gegensatz zu den Schilderungen der Schweizer Autorin Eveline Hasler über das Schicksal der Kinder und ihrer Betreuerinnen im ebenfalls bei Paris gelegenen Kinderheim La Hille, die sie sogar durch eine Widmung würdigt. Ein Vergleich bietet sich an mit dem ebenfalls erst unlängst erschienen Buch „Mit dem letzten Schiff. Der gefährliche Auftrag des Varian Fry“ (München 2012). Koestlers Roman über das Schicksal von Emigrantenkindern spiegelt auch etwas von seiner eigenen politischen wie menschlichen Zerrissenheit wider und ist insofern auch ein Zeitbild. Ein ebensolches veranschaulicht zudem die Geschichte des Manuskripts laut Klappentext: Während Arthur Koestler 1939/40 im Konzentrationslager La Vernet war, fielen die ihn betreffenden Akten in Paris in die Hände der Gestapo, darunter auch das Manuskript „Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration.“ Als 1945 die sowjetischen Truppen in Berlin einmarschierten gingen die Akten in die Obhut des NKGB, bzw. des KGB über. 1953 wurden sie dem Archiv in Moskau übergeben — und unlängst von den Herausgebern im „Nachlass Koestler“ entdeckt. Der 1983 in London verstorbene Koestler soll übrigens in den 1950er Jahren in einem Pariser Keller eine Kopie des Typoskriptes vom „Genossen Piepvogel“ gefunden und mit nostalgischen Gefühlen gelesen haben, wie die Herausgeber berichten. Aber zugleich ging er dazu auf Distanz, weil es der einzige Roman war den er „noch als Kommunist zu Ende schrieb“. Das Manuskript erschien ihm jetzt zu dilettantisch und ungleichmäßig — insgesamt zu schlecht, um als Zeitdokument veröffentlicht zu werden. (Nachwort S. 219). In den Nachkriegsjahren war außerdem wohl kaum jemand aufnahmebereit für eine derartige "Thematik von einem jüdischen Emigranten. Die Folgen der faschistischen Ideologie, von Rassenund Völkerhass wirkten trotz der schrecklichen Weltkriegsfolgen noch immer nach. Arthur Koestler war zwar Ungar — aber 1905 in Budapest in eine biirgerliche jiidische Familie hineingeboren. Er konnte in Wien studieren — Ingenieur- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie —, brach jedoch das Studium ab und versuchte sich mit Schreiben eine Existenz aufzubauen. In Wien kam er in Kontakt zu zionistischen Kreisen, ging nach Palästina und erhielt durch glückliche Umstände vom Ullstein-Verlag die Gelegenheit, als Auslandsberichterstatter die Sowjetunion und den Orient zu bereisen. Er wurde 1931 Mitglied der KPD, gehörte als Emigrant in Paris zum Kreis um Willi Münzenberg, kündigte 1935 seine Parteimitgliedschaft, verzichtete dabei auf eine Karriere im Parteiapparat oder im Miinzenberg’schen Medienimperium; ging aber nach Spanien, um über den Bürgerkrieg zu berichten, schrieb „Menschenopfer unerhört“, wurde verhaftet und begnadigt, verfasste „Ein spanisches Testament“, wurde jedoch bei seiner Rückkehr nach Frankreich sofort in Le Vernet interniert. Mit Hilfe von Freunden gelang die Freilassung und die Flucht über Marseille nach London, wo er ab 1941 bis zu seinem Freitod lebte. Er schrieb mehrere Romane, Sachbücher und Essays. Bekannt geworden bis heute ist er durch die Bücher „Gladiatoren“ (1939, deutsch 1948) und „Sonnenfinsternis“ (1940, deutsch 1946). Nun füllt der vorliegende Erstlingsroman eine weitere Lücke im Lebens- und Schaffensbild einer widersprüchlichen Persönlichkeit — auch dank des detailreichen Nachwortes. Aber hier wird kein Kinderbuch, keine Unterhaltungslektüre angeboten, sondern eher Lehrstoff für Exilforscher, Germanisten und Historiker. Helga W. Schwarz Arthur Koestler: Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration. Roman. Hg. von Henrik Eberle und Julia Killet. Zürich: Europa Verlag 2013. 240 S. Euro 23,