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Was heißt fremd? Zu Stanislav Struhars „Fremde Frauen“ Ein paar Schritte im eigenen Wohnzimmer, Erinnerungen an die Kindheit, oder Begegnungen in einem fernen Land - die Erfahrung der Fremdheit lässt sich nicht eingrenzen. Sie ist ortsungebunden und vielleicht überhaupt undefinierbar, weil nur individuell und stets aufs Neue erfahrbar. Der Begriff des „Fremden“ erscheint in seiner Bedeutungsvielfalt vage, er kann bald der Diskriminierung, bald der Aufwertung dienen. Doch wer oder was bestimmt darüber, dass etwas oder jemand als fremd gilt? Die Lektüre von Stanislav Struhars Erzählungen „Fremde Frauen“ führt zu derlei Überlegungen, sie regt dazu an, das Fremde zu hinterfragen, es umzudenken und unterschiedlich zu betrachten. Doch das ist sicherlich nur ein möglicher Moment nach dem Zuschlagen des Buchdeckels. Denn Struhars Geschichten versuchen nicht zu erklären, sie kommen ohne große Worte daher. Das ist gut und zeichnet dieses Buch aus. In „Bernadette“, der ersten Erzählung, begegnet die gleichnamige Protagonistin dem Studenten Alan. Er floh als Jugendlicher aus der kommunistisch regierten Tschechoslowakei nach Wien. Ein Konflikt mit seinem Stiefvater ließ ihn seine Reise in ein besseres Leben, wie er es sich wünschte, antreten. Als Bernadette, ebenfalls nach einem Streit mit ihrem Stiefvater, ihr Elternhaus verlässt, findet sie bei ihm Unterkunft. Trotz der erzwungenen räumlichen Nähe herrscht zwischen den beiden zunächst Misstrauen und Skepsis. Es dauert einige Monate, bis sie einander kennenlernen und sich schließlich verlieben. In der zweiten Erzählung trifft der Deutsche Stefan, im italienischen Küstenort Ventimiglia auf Francesca. Einst lernte Stefan Arianna, die Cousine Francescas, in München kennen, ihre Beziehung zerbrach, doch er entschied sich in Italien zu bleiben. Nun arbeitet er im kleinen Lebensmittelladen von Francescas Vater, Girardi. Sie versteht nicht, warum ihr Vater gerade den deutschen Migranten unterstützt und behandelt Stefan argwöhnisch. Als Girardi aber im Krankenhaus landet, muss sie an seiner Stelle den Laden führen. Bald kommen sich die beiden näher, Francesca erfährt von Stefans Kindheit im Waisenhaus und er über den Tod ihrer Mutter. Beide Geschichten erzählen von der Begegnung zweier Fremden. Alan und Stefan sind fremd in ihrer neuen Heimat, Bernadette und Francesca sind einheimisch, doch sich selbst und ihrer Umgebung fremd geworden. Der Titel vermag zu irritieren, da es nicht die beiden Männer sind, die als fremd bezeichnet werden, doch kann er auch als gelungene Umkehrung gelesen werden, er relativiert, was „fremd“ bedeuten kann, vielleicht ironisiert er den Begriff sogar. So leise und lethargisch die beiden männlichen Protagonisten sind, so zurückhaltend und unprätentiös schreibt Struhar. Das Gefühl des Fremdseins muss nie direkt angesprochen werden, es vermittelt sich im Schweigen der Charaktere, in den Auslassungen des Erzählers. Die schrecklichen Erfahrungen aus der Kindheit leben im Inneren fort, die Sprachlosigkeit der eigenen Situation gegenüber ist nicht zu bewältigen. In der ersten Erzählung heißt es: „Ich schloss die Augen, senkte den Kopf und hörte meine Stimme. Mein Tschechisch bebte.“ Die eigene Berechtigung als Ausländer wird unterschwellig thematisiert, es sind banale Fragen nach der eigenen Herkunft, Höflichkeitsfloskeln, die den Protagonisten das Gefühl des Zuhauseseins nehmen. Als fahler Beigeschmack bleibt dem Leser die große Ähnlichkeit der Erzählungen. Alan und Stefan bzw. Bernadette und Francesca sind von ihrer Art kaum zu unterscheiden, die Liebesgeschichten nehmen den gleichen Verlauf, eine Liste an Parallelen ließe sich fortführen. Ist die erste Geschichte schon zum Teil voraussehbar, so besteht bei der zweiten kein Zweifel mehr über die Entwicklung der Handlung. Das schadet der Spannung und teilweise auch der Intensität der Lektüre. Dessen ungeachtet sind Struhars Erzählungen in ihrer schlichten Form und sensiblen Betrachtung überzeugend. Thassilo Hazod Stanislav Struhar: Fremde Frauen. Zwei Erzählungen. Klagenfurt: Wieser 2013. 170 S. Euro 17,40 Der Autor Vladimir Vertlib beschritt, nachzulesen in den autobiografischen Texten zu Beginn des Essaybandes „Ich und die Eingeborenen“, einen langen Weg über die „Zwischenstationen“ Wien, Italien, Holland, Israel und USA, um letztlich in Österreich auf „alte Bekannte“ zu stoßen, sich über revisionistische und antisemitische Äußerungen zu echaufheren, über die Wehrmachtsausstellung in den späten 90ern zu berichten oder über die, kraft Geburt, „jüdische Vorhaut“ zu witzeln. Vertlib ist ein vertrauenswürdiger Erzähler und ein verlässlicher Beobachter, beides gleichermaßen, die nun versammelten Aufsätze von fast 20 Jahren beweisen dies eindrucksvoll. Vertlib macht in seinen Essays stets die eigene Sprechposition sichtbar, seinen Blick als Autor und Beobachter mit multiplen Migrationserfahrungen und mehrfachen „Identitäten“. Der Leningrader, Russe, Jude, Österreicher, Nonntaler, der mit vierzehn aus den USA abgeschobene Schriftsteller Vertlib holt sich von ihm bearbeitete Sachverhalte in seinen Texten nahe heran und zeigt sie erstaunt, teilweise etwas verschmitzt dem Leser, er verbindet sie mit der eigenen Biografie, zeigt sich aber nicht nur dort betroffen, wo er selbst betroffen ist. Der scharfe Blick, der Wunsch nach Genauigkeit, spiegelt sich in vielen detaillierten Besprechungen von scheinbar Unscheinbarem oder Nebensächlichem. In seiner Abhandlung über die Rezension als literarischer Text erklärt Vertlib sein jahrelanges Engagement für zu wenig bekannte, vergessene Literaten des Exils. Vertlib besprach beispielsweise Alfredo Bauer oder Stella Rotenberg, bekanntlich zwei Iheodor KramerPreisträger für Schreiben im Widerstand und im Exil, und publizierte zahlreiche Aufsätze in MdZ, nunmehr ZW. Der Autor findet „das Exemplarische im Besonderen“, wie es im Titel eines Reiseberichts zum jüdischen Museum nach Hohenems in Vorarlberg heißt. Ein ungewöhnlicher Ort, in der westösterreichischen Provinz gelegen, der ebenso ungewöhnlich aufwendig seiner vertriebenen und ermordeten Bevölkerung während der Naziherrschaft gedenkt: „Die Wahrnehmung des vermeintlich Fremden findet in erster Linie an der Peripherie, im Grenzbereich, statt, und auch das erst nachträglich, wenn es nicht mehr existiert.“ Dieses Exemplarische im Besonderen sucht Vertlib immer auch bei sich selbst, er verschweigt nicht das „Detail“ des eigenen Daseins und überzeugt den Leser mit schlüssigen Selbstanalysen, die ihm als Ausgangspunkt für weiter greifende Überlegungen dienen. Er setzt mit diesem Zugang schriftstellerisch einiges aufs Spiel, stellt sich von Aufsatz zu Aufsatz, natürlich ursprünglich nicht in dieser Absicht, immer mehr vor und reüssiert letztlich doch damit. Für Vertlib sind „Exil, Emigration und die Suche nach der eigenen Identität“ die „wesentlichen existenziellen Erfahrungen“ des vergangenen Jahrhunderts. Der Autor bearbeitet dieses Thema mit Charme und Humor, oft wird ein letzter Satz von ihm nicht ausgesprochen, verdichtet sich zu einer Pointe, die von tief unten oder weit her tönt, so wie sonst nur der Witz es vermag, ein beschleunigtes Aufblitzen von Verständnis zu erzeugen. Und Freude zu machen. Thomas Wallerberger Vladimir Vertlib: Ich und die Eingeborenen. Essays und Aufsätze. Hg. von Annette Teufel. Dresden: Thelem 2012. 344 S. Euro 20,40 Dezember 2013 77