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Wer sich ein „Mammutprojekt“ (S.5) vornimmt, braucht Motivation, Leidenschaft und Durchhaltevermögen. Sonja Frank, Herausgeberin der Dokumentation Young Austria. OsterreicherInnen im Britischen Exil 1938-1947, hatte ihre ganz persönlichen Gründe, diese knapp 500-seitige Dokumentation umzusetzen: Ihre Großeltern Fanni und Ludwig waren Mitglieder jener ExilJugendorganisation, der zwischen 1939 und 1947 zahlreiche junge ÖsterreicherInnen in aller Welt, vor allem aber in England angehörten. Dieses Werk ist ein umfassendes Kompendium, dessen Wucht, man sich erst vorstellen kann, wenn man es in den Händen hält: Rund 80 Porträts befinden sich zwischen den zwei Hochglanzbuchdeckeln — es sind die Lebensgeschichten ausgewählter Young AustriaMitglieder. Den mehrseitigen Porträts vorangestellt ist die umfassende Geschichte der Jugendorganisation: Hier beschreibt die Autorin anschaulich, welch rasante Entwicklung die Jugendorganisation nahm. Zählte sie zu Beginn nur etwa zwanzig Personen, gehörten ihr innerhalb weniger Jahre über 1.300 an. (Insgesamt flohen rund 27.000 ÖsterreicherInnen während der NSHerrschaft nach England.) Gruppen entstanden in den meisten englischen Städten — erwa in Birmingham, Manchester, Cambridge, Oxford, Newcastle, York, Leicester. Gemeinsam hatten die österreichischen Mitglieder, dass sie sich im englischen Ausland gegen die Naziherrschaft einsetzten - ihr vordergründiges Ziel war es, sich für den Aufbau eines freien, demokratischen und unabhängigen Österreich einzusetzen. (Daher der Untertitel des Buchs: „Für ein freies, demokratisches und unabhängiges Österreich‘). Die Politisierung der Jugendorganisation wird in dieser Dokumentation freilich nicht ausgespart: Die GriinderInnen waren hauptsächlich junge KommunistInnen und es war diese politische Gesinnung, die die Gruppe maßgeblich prägte. (Die jungen Kommunisten hatten sich trotz Verbots zuvor in Österreich schon sehr gut organisiert.) Viele der Young Austria-Mitglieder waren jüdischer Herkunft. Die Jugendorganisation war mit der kommunistisch dominierten Exilorganisation „Austrian Centre“ eng verflochten. Aber es waren nicht ausschließlich die politischen Aktivitäten, die für Zustrom und später dann für Zusammenhalt sorgten: Für die meisten Mitglieder war Young Austria eine Art Heimatersatz. Es waren junge Menschen (zwischen 14 und 25 Jahren), die ihre Familien verloren hatten. Die Dokumentation zeigt, wie die Betroffenen bei Young Austria ein Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit im Ausland fanden; wie sie sich der Heimat ein Stück näher fühlen konnten. Die kulturellen Leistungen der jungen Österreicher im britischen Exil sind dabei besonders hervorzuheben: Es gab Heimabende, Wanderungen, Sommerlager. Zu nennen sind auch die Kleinkunstbühne Das Laterndl und die Zeitschrift Zeitspiegel, die vom Austrian Centre herausgegeben wurde. Diese Zeitschrift war es auch, die über die erste Konferenz der „Freien Österreichischen Jugend“ (FÖJ) in New York im Jahr 1942 berichtete. Die Publikation widmet sich in weiteren Kapiteln auch den Kindertransporten, durch die über 10.000 jüdische Kinder von der NS-Verfolgung gerettet wurden. Auch die Rolle der Österreicher in den britischen Streitkräften wird beleuchtet. (Ab 1943 wurde den Österreichischen Pionieren der Zugang zu fast allen Armee-Einheiten ermöglicht.) Am eindringlichsten sind aber die unzähligen Fotografien in diesem Band. Viele der Mitglieder sind erst vor kurzer Zeit gestorben, einige Young Austrians haben an diesem Buch auch mitgearbeitet. Hervorzuheben ist die Breite des Bands: Anstatt sich „nur“ einigen prominenten Namen — etwa renommierten Künstlern wie etwa Erich Fried oder Otto Tausig- zu widmen, wird hier gerade den „normalen“ Mitgliedern Platz gewidmet. Dabei sind die Texte keineswegs trockene biografische Notizen: Ergreifend sind die Geschichten über Heimatverlust und -findung, unvorstellbar für jüngere Generationen. Es sind Geschichten von Flucht mit gefälschten Papieren, von Inhaftierungen wegen Spionageverdacht, von Treffen mit Partisanengruppen in anderen europäischen Städten. (Mit Widerstandskämpfern waren die Young Austrians vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg freundschaftlich verbunden.) Auffallend ist die hohe Zahl jener Mitglieder, die nach dem Krieg nach Österreich zurückkehrten. Die Porträts schildern mitunter die Hürden für die Zurückkehrenden: die Versuche, sich in einem zerrütteten Land einzugliedern und sich für den Wiederaufbau einzusetzen. Seither gab es zahlreiche Wiederschenstreffen. Ein Organisator dieser Treffen war Erich Herzl, der die Herausgeberin mit den notwendigen Kontaktdaten der Mitglieder versorgte. Als erste Quellen hatte Sonja Frank außerdem die Aufzeichnungen ihrer Großeltern über die Young Austria-Treffen. Alleine wäre ein Projekt dieser Art allerdings kaum zu bewältigen gewesen: Für die Umsetzung stand Frank ein umfassendes Dokumentationsteam des Vereins KunstPlatzl zur Seite. Nicht nur ein Buch war Ergebnis dieser Arbeit: Zeitgleich mit der Publikation im Jahr 2012 wurden eine Ausstellung und ein Film lanciert. 2014 steht das Buch vor einer zweiten Auflage. Emily Walton Sonja Frank (Hg): Young Austria. ÖsterreicherInnen im Britischen Exil 1938 — 1947. Wien: Verlag des ÖGB 2012. 471 S. und Bildanhang. Euro 29,90 Ein Rabbi ist üblicherweise kein Historiker. Und auch kein Politiker. Und dennoch hat David Herzog, der bis 1938 in Graz wirkte und lehrte, Aufzeichnungen hinterlassen, die historisch aufschlussreich und in politischer Hinsicht auf unvergleichliche Art bedeutsam sind. Dass sie erst heute, mehr als siebzig Jahre nach ihrer Abfassung und siebenundsechzig Jahre nach dem Tod des Autors allgemein zugänglich gemacht werden, hat weithin bekannte Gründe. Die postnazistische Gesellschaft Österreichs war jahrzehntelang weder an den Schriften noch den Autorinnen und Autoren der in alle Welt vertriebenen Opfer des Nationalsozialismus sonderlich interessiert. Dass David Herzogs Lebenserinnerungen, die in der nun vorliegenden Form die besonders brisanten Jahre von 1932 (in Graz) bis 1940 (in London) umfassen, jetzt einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden können, ist besonders zwei Geburtshelfern zu verdanken. Finerseits dem Grazer Andreas Schweiger, der in den 80er-Jahren für seine Diplomarbeit die ihm von Herzogs in den USA lebendem Sohn zur Verfügung gestellten Kopien der handschriftlichen Aufzeichnungen transkribierte, andererseits dem Grazer Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO, der den Text nun in eine für ein breites Publikum lesbare Form brachte. „Herzog verstand das Schreiben seiner Autobiographie und Familiengeschichte“, diagnostizieren die Herausgeber in ihrem Vorwort, „als Vermächtnis und Dokument für die Nachwelt. Seine Familiengeschichte sollte aber auch einen moralisch-erzieherischen Wert für die nachfolgenden Generationen haben.“ Dem Rabbiner fehlte vermutlich die Vorstellungskraft dafür, wie viel Wasser die Mur hinunterfließen musste, bis sich eine „nachfolgende Generation“ in der ihm zur Heimat gewordenen Hauptstadt der Steiermark fand, die dieses Vermächtnis und seinen Wert zu schätzen weiß. Herzog, ein wohl eher konservativer und zugleich hellsichtiger Angehöriger des Grazer Bürgertums, spricht Klartext, auch in den angeblich Dezember 2013 79