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ein differenziertes Bild und belegen, dass sich die Galizien zugewiesene Rolle je nach politischem, historiografischem oder literarischem Kalkül der Protagonisten änderte. So war Galizien für Joseph I. ein peripheres „Experimentierfeld für Reformen“, aus polnischer Sicht rückständig im „Osten“ und fortschrittlich im „westlichen“ Fürstentum Haly£-Volyn‘, für Leopold von Sacher-Masoch ein peripherer belletristischer Ort der „Poesie des Ostens“ und „orientalisierter Phantasie von polnischer Feudalerotik und atavistischen ‚slawischen‘ Passionen“. So rückte es im Ersten Weltkrieg näher, wurde in der Wiener Presse weniger als das „Andere“, mehr als das „Eigene“ dargestellt. Auch dem multiethnischen, dem jüdischen Galizien nähern sich die AutorInnen auf vielen Wegen an, beispielsweise mit der Analyse der „polnisch-jüdischen Figur des Zwischenraums“, des „Bajazzo“, oder der literarischen Konstruktion der Erinnerung an einen imaginären Raum, der zum Symbol wurde für die verschwundene jüdische Welt Osteuropas. Untersucht haben die Forschenden aber auch, welche Bilder von Galizien sich heute in der Presse der Ukraine und Polens finden, welche Assoziationen die Begriffe Galicija/Haly&yna im Internet hervorrufen. Andere Beiträge belegen die Moderne in der Peripherie — majestätische Bahnhöfe, die wie in Lemberg als „Bühne“ inszeniert wurden und noch heute die Bahnreisenden beeindrucken, — oder die Erdölfelder des „galizischen Kaliforniens“, mit dem Österreich-Ungarn das weltweit drittgrößte Erdöl-Förderland hinter den USA und Russland wurde. Das Buch bietet also für ForscherInnen und Galizien-Fans anregenden Stoff. Es ist zu hoffen, dass die wissenschaftliche Initiative des Doktoratskollegs weiterhin dazu beitragen wird, Versäumtes aufzuholen und die Fülle von Material — gerade in Wiener Bibliotheken und Archiven -, aber auch in der Ukraine und Polen zu nutzen. So wies der Schweizer Historiker Andreas Kappeler anläßlich der Vorstellung eines wichtigen Brody-Buches von Börries Kuzmany (Brody. Eine galizische Grenzstadt im langen 19. Jiti Mordechai Langer wurde 1894 als Sohn eines Kaufmanns in eine assimilierte Prager jüdische Familie geboren. In den Erinnerungen seines älteren Bruder, des Dramatikers Frantisek Langer, die einleitend erstmals auf deutsch im besprochenen Band zu lesen sind, nannte dieser „das Denken dieser Generation von jeglicher Metaphysik Meilen entfernt“. Außer J.M. Langer interessierte sich im damaligen Prag niemand für das orthodoxe und chassidische Judentum. Ab 1913 lebte Langer teilweise bei den Chassidim in Belz. In der Zwischenkriegszeit interessierte er sich für die Psychoanalyse, wovon sein 1923 publiziertes Buch „Die Erotik der Kabbala“ und seine Aufsätze über die jüdischen Gebetsriemen und über die Türpfostenrolle in der Zeitschrift „Imago“ zeugen. Er arbeitete als Religionslehrer, lehrte auch Franz Kafka Hebräisch, schrieb hebräische Gedichte und publizierte in der Zeitschrift „Selbstwehr“ und in dem von Felix Weltsch herausgegebenen Jüdischen Almanach. 1939 flüchtete er auf einem Donauschiff nach Palästina, wo er erkrankte und 1943 starb. 2010 publizierte Walter Koschmal eine Monographie über Langer und eine Auswahl seiner Aufsätze. 1937 veröffentlichte Langer in tschechischer Sprache seinen Bericht über seine Erlebnisse bei den Chassidim. 1959 erschien er in einer gekürzten und, wie die Übersetzerin Kristina Kallert im Nachwort schreibt, stark veränderten deutschen Übersetzung von Friedrich Thieberger. Angeregt wurde diese Publikation von Gershom Scholem, der das Buch „eine der wertvollsten Darstellungen des chassidischen Lebens und der chassidischen Denkweise“ nannte. In der Reihe „Bibliothek der böhmischen Länder“ des Arco Verlags ist nun dieses wichtigste Dokument erstmals vollständig übersetzt und kommentiert neu aufgelegt worden. Andreas B. Kilcher, einer der besten gegenwärtigen Kenner der Kabbala, der mystischen Lehre des Judentums, untersucht in einem umfangreichen begleitenden Essay Langers schriftliche Quellen. Er vergleicht seine Darstellung mit den anderen populären zeitgenössischen Anthologien chassidischer Geschichten von Martin Buber und Chaim Bloch, die Langer bekannt waren. Im Gegensatz zu Blochs quellennahen und chronologischen Anthologien legte Langer laut Kilcher „eine subjektive und von eigenem Erleben und Erzählen geprägte Auswahl aus der Perspektive der Belzer Chassidim vor“. Frantisek Langer hatte am Schluss seiner Erinnerungen moch geschrieben: Weder unter dem blauen Himmel Israels noch Jahrhundert. Wien 2011) darauf hin, dass der Buchautor und Kollegteilnehmer Kuzmany seit 1918 der erste österreichische Historiker gewesen sei, der auf neue Archivquellen in polnischer und ukrainischer Sprache zurückgegriffen habe. Heutige österreichische SchülerInnen werden — infolge der dem Wissenserwerb wenig holden Bildungspolitik — mit Orten der Erinnerung wie Galizien offenbar überhaupt nicht mehr belastet. Wo es denn sei, fragte ich vor kurzem. In Italien wurde vermutet. Wenn wenigstens Spanien genannt worden wäre. Helene Belndorfer Elisabeth Haid, Stephanie Weismann, Burkhard Wöller (Hg.): Galizien. Peripherie der Moderne — Moderne der Peripherie? Marburg: Verlag Herder-Institut 2013. 216 S. Euro 28,50 (Tagungen zur Ostmitteleuropaforschung. Hg. vom HerderInstitut für historische Ostmitteleuropaforschung — Institut der Leibniz-Gemeinschaft. Bd. 31). im Treiben der Straßen von Brooklyn kann eine mystische Wirklichkeit fortdauern, wie das kleine chassidische Volk sie in seiner galizischen Abgeschiedenheit von Welt und Zeit gelebt hat, in der Armut, in der alle einander gleich waren, in der Freiheit, in der sie nur dem Willen Gottes unterstanden, und in der Erhabenheit, die aus der Weisheit und den Wundern ihrer heiligen Rebben abstrahlie auf ihre Gemeinden. So zeigt sie ein letztes Mal mein Bruder Jiri. Mit seinem fröhlichen Buch hat er ihnen ein ewiges Denkmal errichtet und ihr Andenken bewahrt für alle Zeit. Doch die Belzer Chassidim erleben heutzutage eine Renaissance. 2010 bauten sie in Kiriat Belz in Jerusalem die Synagoge von Belz — heute die größte Synagoge Israels — neu auf. E. Adunka Jitt Mordechai Langer: Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim. Vorwort von Frantisek Langer. Aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort von Kristina Kallert. Wuppertal: Arco 2013. 400 S. (Bibliothek der Böhmischen Linder). Euro 28,Dezember 20138 81