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Dieses Buch der Grazerin Victoria Kumar könnte bereits damit anschaulich beschrieben werden, dass einfach das Inhaltsverzeichnis wiedergegeben würde. Um nur einige Titel herauszugreifen: Wir wussten, dass nun alles zu Ende ist. — Ich erhielt ein Visum für Shanghai, ein Ort, über den ich gar nichts gewusst hatte. — Ich betrachte Graz noch immer als meine Heimatstadt. — Es war ein weiter, dornenvoller Weg von Graz nach Haifa. — Man hat doch immer gehofft, dass man einmal wieder zurück können wird, wenn der ganze NaziSpuk vorbei ist. — Abscheu und Empörung muss ich noch heute überwinden, wenn ich zurück nach Österreich komme. Anhand von Interviews und autobiographischen Texten von geflüchteten Grazer Jüdinnen und Juden werden in diesem mehr als 200 Seiten starken Band etwa sieben Prozent der rund 450 im Jahr 1938 in Graz lebenden jüdischen Familien portraitiert, wie Victoria Kumar in ihren Erläuterungen nach 33 Kapiteln über 33 Personen bzw. Familien resümiert. Das Werk stützt sich nicht unwesentlich auf die 2011 ferüggestellte Dissertation der Autorin über die „Auswanderung und Flucht steirischer Jüdinnen und Juden“, für die umfangreiche Forschungen und Recherchen erforderlich waren, insbesondere persönliche Begegnungen mit insgesamt achtzehn Grazer Israel-Emigrantinnen und —Emigranten, zum Teil auch mit deren Angehörigen. Darüberhinaus wurden auch andere Quellen herangezogen, etwa Interviews aus dem Bestand von Steven Spielbergs Shoah Foundation der University of Southern California, sowie andere in den vergangenen Jahren von anderen Forschern geführte Gespräche. Das allein würde das Buch bereits zu einem anschaulichen und informativen Grazer Lesebuch machen. Aber das Besondere an der lokalen Geschichte ist häufigauch, dass darin die sogenannte „große“ deutlicher und anschaulicher sichtbar wird. Dies leistet das vorliegende Buch abseits der Texte auch durch aussagekräftige und gut reproduzierte Illustrationen. Etwa den Abdruck eines sogenannten „Affidavits“, der damals viel begehrten, oftmals verzweifelt um den ganzen Erdball erflehten beglaubigten Bürgschaftserklärung aus dem Zufluchtsland. Oder der Liste der Kinder aus Graz, die für den „Englandtransport III“ vom 8. Jänner 1939 vorgesehen waren. Oder das durchaus typisch zu nennende über und über mit Stempeln, Stempelmarken und Vermerken „Hätten wir den Menschen nur, ein Paragraf wird sich finden!“ So lautet die russische Redensart, die auf die beliebige Opferselektion während des Großen Terrors 1937/38 in der Sowjetunion verweist und zum Titel des neuen Gedenkbuches der österreichischen Stalin-Opfer wurde. Fürwahr „eine eindrucksvolle, umfassende Dokumentation“, wie sie auch Bundespräsident Heinz Fischer in seiner Einleitung zum Buch nennt. „Sie kamen mit der Hoffnung auf Arbeitsmöglichkeiten, Freiheit, oder auf die Verwirklichung ihrer Ideale. Stattdessen erfuhren allzu viele Verleumdung und Verhaftung, Verhöre und Verzweiflung sowie gnadenlose Behandlung durch Unterdrückung, Lagerhaft und Zwangsarbeit,“ schreibt Fischer. Die zerbrochenen Lebenslinien von 704 Männern und 65 Frauen, OsterreicherInnen, die zwischen dem 7. November 1917 und dem 9. Mai 1945 durch sowjetische Staatsorgane verhaftet wurden, die Staatsbürgerschaft der Republik Österreich oder andere enge Bindungen an Osterreich (z.B. durch Tätigkeit für die KPÖ) hatten, zeichnen die Buchautoren nach. Der in Limerick geborene Historiker Barry McLoughlin, der sich mit Arbeiten zur Geschichte der Kommunistischen Internationalen und des Stalinismus habilitierte, lehrt an der Universität Wien. Der geborene Waldviertler Josef Vogl, der mit dem Studium der Slawistik und 82 — ZWISCHENWELT Politikwissenschaft in Wien und Leningrad sowie als Mitarbeiter des ehemaligen Osterreichischen Ost- und Siidosteuropa-Instituts die wissenschaftliche Basis legte, arbeitet am DOW. In einem riesigen Puzzle setzten die Autoren die kurzen Opfer-Biografien neu zusammen. Wichtige Informationen kamen von Akten in russischen Archiven — so befinden sich beispielsweise die Kaderakten der Parteimitglieder (inkl. der in die Sowjetunion geflüchteten Schutzbündler) noch im Bestand Kommunistischen Internationale im Russischen staatlichen Archiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI) in Moskau, die Akten der sowjetischen Roten Hilfe (MOPR) und die Strafakten der sowjetischen Geheimpolizei im Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) -, aus Beständen des Österreichischen Staatsarchivs, des Archivs der KPÖ (Blaue Kartei der Gestapo), der Universität Wien und des DÖW. Genutzt wurden Online-Quellen wie die rund 2,6 Millionen Datensätze, die von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial zusammengestellt wurden. Russische Rehabilitierungsurkunden wurden vom LudwigBoltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz zur Verfügung gestellt. Als ergiebig erwiesen sich die Memoiren von Überlebenden, insbesondere die 7000 Tage in Sibirien von Karl Steiner aus Wien. Daten, Dokumente und Fotos steuerten Rückkehrer aus versehene Reisedokument von Samuel Weiß. Oder einem Foto aus dem kenianischen Busch des 1926 in Graz geborenen Karl Leopold Wolf mit seinen Eltern, mit denen er nach Mombasa entkommen war — samt Schilderung der abenteuerlichen Flucht und des weiteren Lebensweges. Und verschiedene weitere historische Fotos runden das eindrückliche Bild der dargestellten Lebenswege ab. Der gesonderte Kommentar der Autorin ergänzt schließlich die erzählten persönlichen Geschichten noch durch einen Überblick über die Entwicklung der Israelitischen Kultusgemeinde Graz bis ins Heute, womit letztlich der Rezensent in der hier gebotenen Kürze jeglichen Sand im Getriebe dieses Buches vermisst. Im Gegenteil ist dem Werk eine Verbreitung über den regionalen Rahmen hinaus wärmstens zu wünschen. Karl Wimmler Victoria Kumar: In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden, Graz: CLIO 2013. Euro 19,der Sowjetunion bei, die den Aufenthalt in den Lagern überlebt hatten, oder ihre Angehörigen und Nachkommen. Generell nicht zugänglich sind bis dato die sowjetischen Akten, die über die Häftlinge in den Lagern geführt wurden. Gulag-Akten liegen in regionalen Archiven des Sicherheitsdienstes, meistens in abgelegenen Regionen nahe dem einstigen Lagerort. Im Gulag starb der Mann auf dem pragnanten Titelbild, Ludwig Birkenfeld. Er war Teil der zweitgrößten Gruppe, der „Schutzbund-Emigration“. Von den mehr als 700 Schutzbündlern, die nach dem gescheiterten Aufstand im Februar 1934 über die CSR in die Sowjetunion flüchteten, wurden 185 verhaftet (zusätzlich auch 12 Kinder von Schutzbund-Emigranten). Das Haftfoto aus dem GARF erinnert an die Fotos der Erkennungsdienstlichen Kartei der Wiener Gestapo-Leitstelle. Der Abstandhalter, der den Kopf fixierte, erscheint als Symbol fiir die aussichtslose Lage, fiir das Verlorenhaben und das Verlorensein der Fotografierten. Seine Vita, ein integraler Teil des „Katastrophenzeitalters“ des 20. Jahrhunderts, belegt das Zusammenspiel von österreichischen und sowjetischen Institutionen und Akteuren. Geboren wurde Birkenfeld 1901 in eine jüdische Familie in Krakau. Der Vater, Spitalsarzt, zog für die Habsburger-Monarchie ins Feld und geriet in russische Kriegsgefangenschaft. Die Familie übersiedelte 1916 nach