OCR
den Inhaftieren befanden sich auch Bruno Kreisky und Fritz Grünbaum. Schon im April 1938 gingen von hier die ersten Transporte nach Dachau, ist bei Peter Payer in der Bezirksgeschichte „Brigittenau gestern heute morgen“ nachzulesen. In der nahegelegenen Halle des Nordwestbahnhofes ist ab 30. Juni 1938 die großangelegte, antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude“ zu schen. Das Publikumsinteresse war enorm. Bis zum 30. September zählte man 350.000 Besucher. Die Ausstellung wurde daher um einen Monat verlängert, weiß Payer zu berichten. Während des Novemberpogroms werden nicht nur die Brigittenauer Synagogen und Bethäuser geschändet und zerstört, sondern auch zahlreiche jüdische Bezirksbewohner attackiert und misshandelt, verschleppt oder gar getötet. Anfang 1939 wird Anton Schmids Mitarbeiter Eduard Kanitzer, der an sich durch eine aufrechte Ehe mit einer sogenannten Arierin relativ geschützt scheint, die Wohnung in der Wexstraße in Wien-Brigittenau gekündigt. „Uns haben sie die Wohnung weggenommen, weil mein Vater ein Jude war“, erinnerte sich sein Sohn Gerhard Jahrzehnte später im Gespräch mit mir. Anton Schmid und seine Frau nehmen die Familie Kanitzer, insgesamt vier Personen, dauerhaft in ihrer Wohnung in der Klosterneuburger Straße 78 auf. Den Kanitzers gelingt es im letzten Moment, ihre beiden minderjährigen Kinder mit einem Kindertransport des Refugee Children Movement nach England zu verschicken. 14 ZWISCHENWELT Im Mai 1939 erwirbt Familie Schmid ein Personenautomobil, einen Steyr CC 1871, einen Benziner mit 1.488 Kubikzentimeter Hubraum. Der zweisitzige, offene Wagen wird am 24. Mai 1939 zum Verkehr zugelassen und erhält das amtliche Kennzeichen W-20718. In Anton Schmids Nachlass gibt es nur ein einziges Foto des Steyr. Schmid sitzt höchst vergnügt am Volant, während seine Gattin am Beifahrersitz Platz genommen hat, das stehende Fahrzeug wird von staunenden Freunden der Familie, darunter zwei Halbwüchsigen umringt. Allzu lange hat sich der Brigittenauer Gewerbetreibende nicht an dem neuen Wagen erfreuen können. Denn am 26. August 1939 wird er vom Wehrmeldeamt Wien 9 zur deutschen Wehrmacht einberufen: Sie werden hierdurch zum aktiven Wehrdienst zur Ableistung einer Übung vom 26. August 1939 bis ... bei No 176.411 in Wien einberufen und haben sich sofort bei Sammelpl. Nr. 176.411 in Wien, VI Neubaugiirtel 34 — 36 zu melden. Dieser Einberufungsbefehl und der Wehrpaß sind mitzubringen und bei der Dienststelle, zu der Sie einberufen sind, abzugeben. Bei unentschuldigtem Fernbleiben haben Sie Bestrafung nach den Wehrmachtsgesetzen zu gewärtigen. Bereits am 10. August 1939 war ihm vom Wehrmeldeamt Wien 9 eine Kriegsbeorderung ausgestellt worden: Im Falle einer Mobilmachung haben Sie sich nach Bekanntgabe des Mobilmachungsbefehles, ohne eine anderweitigen Befehl abzuwarten, sofort in Wien VII, Neubaugürtel 34 — 36 bei Sammelpl. Nr. 176.411 zu gestellen. Nun ist es zwar angeblich nur eine Übung, aber der Zinberufungsbefehl A riecht nach Krieg. Am 1. September 1939 ist es keine Übung mehr. Anton Schmid verspricht seiner Frau, kein Held zu sein und den Krieg zu überleben. Eduard Kanitzer überdauert den Krieg gemeinsam mit seiner Gattin in der nicht allzu großen Brigittenauer Wohnung von Anton Schmid, die auch von dessen Frau und von dessen fast schon erwachsener Tochter bewohnt wird. Das Zusammenleben aufengem Raum ist wohl nicht immer vollkommen friktionsfrei. Am 14. Oktober 1941 schreibt Feldwebel Anton Schmid auf einem Blatt gelblichen, unlinierten Papiers aus Wilna an seine Frau in Wien: In Angelegenheit Kanitzer muß ich dir schon sagen, das er aller hand ist. Er sollte hier sehn, was man mit den Juden macht. Alle Wochen werden 6-8 tausend mit Kind u. Kegel erschossen. Die Litauer wollen sie ganz ausrotten. Schlafen müssen sie 30 Menschen in einem Zimmer, alle einer auf den andern am Fusboden. Da möchte er anders denken, das kannst ihm sagen. Mit Gerhard Kanitzer hatte ich noch einige Jahre lang gelegentlich Kontakt. Fast wäre ich sogar mit ihm in seinem kleinen roten Auto nach England mitgefahren, auf den Spuren seines Kindertransportes. Als ehemaliger Berufskraftfahrer war er mir dann aber doch einst ein viel zu guter Autofahrer gewesen, als dass er nun sein hohes Alter wirklich wahrgenommen hätte. Über zehn Jahre habe ich gebraucht, um -auch in Wilna- allen Spuren Anton Schmids zu folgen. Mein dokumentarischer Roman „Die Banalität des Guten. Feldwebel Anton Schmid“ wird im September 2014 im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft in Wien erscheinen. In meinem Herzen ist er Gerhard Kanitzer gewidmet. Erst durch ihn habe ich daran zu glauben begonnen, dass es méglich ist, sich einer historischen Figur wirklich anzunähern und noch dazu einer solch ungewöhnlichen wie dem kleinen großen Feldwebel aus Wien.