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Hitler in Berlin Selbstmord. In seinen letzten Tagen noch hatte er, gescheiterter Künstler, der er war, angeordnet, seine Kunstsammlung für den deutschen Staat zu bewahren. Eigruber aber war unnachgiebig: Nichts Wertvolles dürfe in die Hände des „Weltjudentums“ fallen. Sobald die Zünder einträfen, wollte er seinen Plan in die Tat umsetzen. Mittlerweile lebten sowohl Adolf Eichmanns Familie als auch Ernst Kaltenbrunners Geliebte in Altaussee.? In den ersten Maiwochen trafen beide, Eichmann und Kaltenbrunner, selbst ein. Eichmann sollte wieder abreisen, aber Kaltenbrunner blieb. Es waren die entscheidenden Tage. Er und Eigruber stritten um eine Entscheidung, und Kaltenbrunner setzte sich durch. Er befahl, dass die Kunstwerke doch nicht zerstört werden dürften. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai wurde der Sprengstoff aus dem Bergwerk geschafft und die Tunneleingänge gesprengt; der Zugang zu den Schätzen war verschlossen. Am 8. Mai unterzeichnete Deutschland die bedingungslose Kapitulation, und die 3. US-Armee erreichte Altaussee. Captain Robert Posey, ein Architekt, und Private First Class Lincoln Kirstein, der Ballettmanager (und künftige Gründer des New York City Ballet) waren die ersten Monuments Men, die Altaussee erreichten. Wahrend der nachsten Wochen und Monate wurden die allerwichtigsten Kunstschätze langsam und in mühevoller Kleinarbeit aus dem Stollen und über die die Berge in Sicherheit gebracht. Es dauerte Jahre, sie alle zu bergen und ihren Besitzern zurückzugeben, einige blieben dort bis in die frühen Sechziger. Das Ausseer Salzbergwerk war inzwischen eine Touristenattraktion geworden, und ich hatte es schon einige Male mit meiner Familie besucht: Hineingezwängt in die steifen weißen Uniformen der Minenarbeiter wanderten wir eine gefühlte Ewigkeit im Gänsemarsch die engen Stollen hinab, bis wir die mit Kerzen nur undeutlich ausgeleuchtete, schattenhafte Kapelle der Heiligen Barbara erreichten, wo der Genter Flügelaltar, die Madonna von Michelangelo und die anderen Meisterwerke viele lange Monate über, immer in der Schwebe zwischen Zerstörung und Errettung, gelegen hatten. Soweit die Geschichte und sie ist schattenhaft wie die meine. Verdanken wir die Rettung dieser großartigen Kunstschätze wirklich einem der schlimmsten Naziverbrecher? Ja, es war zweifelsohne Kaltenbrunner, der den Befehl gab. Die Frage ist nur, warum. Auch hierin lauert die Ironie. Sicherlich wollte er dadurch seine eigene Haut retten, vor den Minenarbeitern, die ihrerseits die Mine retten, vor den Alliierten, die die Kunstwerke retten wollten. Aber Kaltenbrunner war, wie viele der rätselhaftesten Nazis, ein gebildeter Mann; und vielleicht wollte er wirklich selbst die Kunstwerke retten. Hinter diesen Schatten liegen noch tiefere verborgen. Kaltenbrunner hatte zwar den Befehl gegeben, aber wer hatte das gefährliche Unterfangen, das Entfernen des Sprengstoffs und die Sprengung der Tunneleingänge, gegen den Widerstand Eigrubers, geplant und ausgeführt? Drei Personen wollten sich damals mit den Lorbeeren schmücken: Albrecht Gaiswinkler, ein Bad Ausseer, der im Auftrag der britischen SOE mit dem Fallschirm in der Gegend abgesetzt wurde; Sepp Plieseis, Anführer der Altausseer WiderstandskämpferInnen, und Dr. Hermann Michel, Leiter der Mineralogischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. Im Lauf der Jahre jedoch wurde klar, dass alle drei übertrieben hatten; einer von ihnen, Gaiswinkler, hatte sogar unverhohlen gelogen. Die wirklichen Helden waren zwei gewöhnliche 26 _ ZWISCHENWELT Bergwerksfunktionäre: Dr. Pöchmüller, der Direktor, und ein Ingenieur namens Otto Högler. Beide waren aber als chemalige NSDAP-Mitglieder vorbelastet und einem Helden, der vom Himmel fiel, nicht gewachsen. Tatsächlich wurden Gaiswinklers Lügen schon 1949 aufgedeckt. Dennoch, 50 Jahre lang wurde Gaiswinkler, bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen die Vergangenheit in Altaussee thematisiert wurde, als Schlüsselfigur bei der Rettung der Kunstwerke genannt. Seine Wikipediaseite stellt seine Behauptungen, fast 70 Jahre später, noch immer zur Schau. Clooneys Film würdigt übrigens die Rolle der Minenarbeiter bei der Rettung der Kunstwerke (in einer einzigen flüchtigen Erwähnung). Da der Film aber Fiktion und hoffnungslos ungenau bei allen anderen Dingen ist, macht das nicht wirklich einen Unterschied. Wie kam es nun aber dazu, dass ich diese Geschichte schon die längste Zeit meines Lebens kenne? Lange bevor Altaussee zum Lieblingsort der Nazis wurde, war er der Lieblingsort der Juden. Um genauer zu sein, war er ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Lieblingsort des Wiener jüdischen Bürgertums — und ab Mitte der 1920er auch der meiner Mutter und ihrer Familie. Sie war vielleicht höchstens fünf, als sie ihren ersten Sommer in Altaussee verbrachte; das heißt, vor fast neunzig Jahren sah sie den Ort zum ersten Mal. Sie erinnerte sich, wie sie in Großmutters Pferdekutsche die steilen Wege rauf und runter fuhr. Sie erinnerte sich, wie sie Freundschaft schloss mit dortigen Kindern, wie stolz sie war, ihren Dialekt zu sprechen, wie sie mit anderen jüdischen Kindern spielte, die dort ihre Ferien verbrachten: die Cousins Weiss, ein Junge namens Stefan Kaufmann und viele andere, deren Namen sie vergessen hat. Sie erinnerte sich an eine ganz in Schwarz gekleidete Dame, die in Altaussee eine Villa besaß und die, wie sich herausstellte, Sigmund Freuds Schwester war: „Lies meines Bruders Bücher nicht!, sagte die Dame. „Wenn du es doch tust, bleibt dir einzig und allein der Selbstmord.“ 1937 verbrachte meine Mutter ihren letzten Sommer in Altaussee; im März 1938, wenige Tage nach dem Anschluss, war sie schon bei ihrer Mutter in England. 1939 lernte sie einen anderen jüdischen Flüchtling aus Wien kennen, der mein Vater werden sollte. Und im Jahr 1948, nachdem er aus dem Militärdienst entlassen worden war, emigrierten sie nach Kanada. Unsere Familie hatte Glück. Die Cousins meiner Mutter hatten es ebenfalls geschafft zu Hüchten, nach England und Australien, wie auch der Großteil der Familie meines Vaters, die nach England, Kanada und in die USA entkamen. Doch meine Eltern waren lange Jahre nicht in Wien gewesen, und es fehlte ihnen. Also kehrten wir Mitte der Fünfzigerjahre, ich war gerade zehn, zum ersten Mal nach Wien zurück. Der Besuch war eine Katastrophe. Meine Mutter hielt es nicht aus in Wien, in dieser Stadt mit ihrer schäbigen Gegenwart und verdunkelten Vergangenheit; mitten in der Nacht mussten wir Wien verlassen. Danach kamen wir nur mehr sporadisch zurück, um meines Vaters Cousins zu besuchen. Altaussee hingegen war anders. Wir mieden es in dieser ersten Zeit, um meiner Mutter weitere emotionale Krisen zu ersparen; ab den späten Fünfzigerjahren jedoch kehrten wir fast jeden Sommer dorthin zurück, genauso wie meine Mutter es als Kind getan hatte. In Wien fühlte sie sich elend, in Altaussee aber war sie glücklich. Es ist etwas Besonderes an diesem Ort: die Höhe, die Luft die Stille, die Bauernhäuser, die ihre perfekte Form vor Jahrhunderten gefunden und nicht mehr