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Die Familie Lin heute: Schwiegerenkelin Luo, Schwiegertochter Pan, Enkel Su Shanghai als christlicher Pastor niedergelassen und die MuyiSchool gegründet, eine kostenlose Grundschule für arme chinesische Kinder. Nach Aussagen seiner Familie soll er Carl Anger eine Stellung an dieser Schule angeboten haben. Der Kaufmann Carl Anger war 1939 aus Güstrow in das ferne Shanghai geflohen. Die Lage der Juden in den mecklenburgischen Kleinstädten hatte sich schon seit 1933 ständig verschlechtert. Carl Anger, der in den 1920er- und 1930er-Jahren in Güstrow einen Tabak- und Fotoladen sowie eine Leihbücherei führte (laut Recherche von Falk Bersch), durfte ab 1936 seinen Beruf nicht mehr ausüben. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde er wie viele andere Juden verhaftet und für mehrere Wochen in der „Landesanstalt Neustrelitz-Strelitz“ eingekerkert. Erst am 2. Dezember 1938 wurde er wieder entlassen. Am 19. November 1938 wurde Carl Anger im „Niederdeutschen Beobachter“ in einem antisemitischen Artikel namentlich beschimpft. Am 6. März 1939 konnte er schließlich zusammen mit seiner Frau Paula nach Shanghai emigrieren, wo er bis zum 25. Juli 1947 blieb. Am 31. August 1947 traf das Ehepaar Anger wieder in Deutschland ein, wo die Angers bis zu ihrem Tode lebten. Ende 1938 und besonders nach den Novemberpogromen blieb für viele Juden nur noch Shanghai als Fluchtziel übrig, da die Tore zu fast allen anderen Ländern verschlossen blieben. Shanghai war praktisch der einzige Ort auf dem Erdball, wo man ohne Visum, ohne Arbeitserlaubnis u.a.m. einreisen durfte. Die Verhältnisse in Shanghai waren für die Flüchtlinge allerdings schr schwierig: Klima, Krankheiten, Armut, fremde Kultur, unverständliche Sprache und nicht zuletzt der Aggressionskrieg Japans gegen China. Leider können die Nachfahren Pastor Lins kaum noch etwas über die Freundschaft zwischen dem Pastor und Carl Anger erzählen, nur die Geschichte der geretteten Bücher ist in der Erinnerung der Nachfahren noch lebendig. So wird berichtet, dass Pastor Lin Daozhi, beunruhigt durch die Nähe eines japanischen Munitionslagers, mit der Familie und den Büchern im Juni 1945 sein Wohnhaus verließ und aufs Land nach Huangyan zog. Eine beschwerliche Reise, selbstverständlich ohne Auto, teils mit Unterstützung gemieteter Träger, die auch die 2.000 Bücher auf ihren Schultern transportierten, teils auf dem Seeweg, wo die Familie mit ihren Habseligkeiten den dort lauernden Piraten entrann. Und der Pastor hatte ja recht, sein Wohnblock wurde am 17. Juli 1945 von amerikanischen Bomben getroffen. Nach dem Krieg kehrten die Familie und mit ihr auch die Bücher nach Shanghai zurück und Pastor Lin Daozhi setzte seine Arbeit in der Muyi-School ab März 1946 fort. 32. ZWISCHENWELT In den 1960er-Jahren, während der „Kulturrevolution“, waren in den Augen der Rotgardisten alle in fremden Sprachen gedruckten Bücher „giftig“ und wurden als „Porno“ bezeichnet. Sie schafften die Bücher also auf einen Platz vor dem Haus und wollten sie gerade anzünden. Ob da als „Geschenk des Himmels“ ein starker Wind einsetzte, können wir heute leider nicht mehr nachvollziehen, aber den Erzählungen der Nachfahren des Pastors zufolge, der seine Gebete zum Himmel sandte, sah es nach heftigem Regen und starkem Wind aus. Die Vernichtung der Bücher wurde daher aufgeschoben. Am folgenden Tag bat Pastor Lin die Staatliche Behörde für religiöse Angelegenheiten um Hilfe und die Bücher wurden wieder einmal in letzter Minute gerettet. Der Enkel Sun Lide sagte: „Wir haben die Bücher ordentlich in einen verschlossenen Schrank gelegt, sodass Ratten, Würmer und die feuchte Luft in Shanghai den Büchern nichts anhaben können.“ Immerhin nahmen die Bücher viel Platz ein. Der Urenkel von Lin verzichtete ihretwegen sogar auf sein eigenes Zimmer und wohnte daher bis zu seinem 16. Lebensjahr mit den Eltern in einem Zimmer. Mehr als zehn Familienmitglieder hausten in der kaum 100 Quadratmeter großen Wohnung. Selbst unter diesen Umständen sei die Idee, die Bücher wegzuwerfen, um Platz zu machen, nicht ein einziges Mal aufgekommen. Die Nachfahren meinten: „Ein Mann, ein Wort, versprochen ist versprochen.“ Vor kurzem wurden die Bücher in einer Shanghaier Bibliothek untergebracht - vorübergend nur, bis sich rechtmäßige Eigentümer melden. Beim Ausräumen vor dem Abriss des Wohnblocks fand man noch weitere Hinweise: Briefe, Postkarten von Carl Anger, die er nach seiner Rückkehr nach Deutschland an Pastor Lin geschrieben hatte. Carl und Paula Anger gehörten zu den wenigen Shanghai-Flüchtlingen, die nach Kriegsende in ihr Heimatland zurückkehrten. Aufgrund eines von Falk Bersch geführten Telefoninterviews ist bekannt, dass das Ehepaar in Schwerin, ihrer beider Geburtsstadt, Unterkunft und Arbeit fand. Beide sind als sympathische Menschen in Erinnerung geblieben, obwohl sie nicht viele Freundschaften pflegten und sich Außenstehenden kaum öffneten. Ihre letzten Jahre verbrachten sie in einem „Feierabendheim“ (Seniorenheim) in Schwerin-Friedrichsthal. Mit Hilfe von Sonja Mühlberger, der selbst 1939 im Exil in Shanghai geborenen Erforscherin des Shanghai-Exils, und von Falk Bersch, Historiker in Schwerin, wurde der Grabstein von Carl Anger (1898 — 1976) und seiner Frau Paula (1898 — 1975) auf dem VVN-Friedhof (VVN - Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) in Schwerin gefunden. Carl und Paula hatten keine Kinder. Die Autorin des Textes ist Doktorandin an der Freien Universität zu Berlin, promoviert über jüdisches Exil in Shanghai und betreibt zur Zeit Feldforschung in Shanghai. Sie wollte der chinesischen Familie bei der Suche helfen. Die chinesische Familie wartet immer noch auf einen rechtmälffigen Eigentümer der Bücher. Falls jemand diesbezügliche Informationen anbieten kann, schreibe er oder sie bitte Frau Yang Meng auf Deutsch, Englisch oder Chinesisch. Die E-Mail-Adresse lautet: allshallpass@gmail.com ZW publizierte 2001 zwei Shanghai-Schwerpunkthefte, hg. und zusammengestellt von Michael Philipp in Zusammenarbeit mit Marcus G. Patka: „Little Vienna‘ in Asien — Exil in Shanghai“. Das erste ist nur mehr als Kopie erhältlich, das zweite kann noch als Heft bezogen werden.