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Ludwig Nagl, Fritz Stadler Nie ein bequemer Zeitgenosse Kurt Rudolf Fischer (1922 — 2014) Kurt Rudolf Fischer wurde 1922 in Wien in der Albertgasse in der Josefstadt geboren, wo er auch die Schule besuchte, zuletzt am dortigen Gymnasium. Aufgrund seiner jiidischen Herkunft musste er 1938 vor den Nationalsozialisten nach Brünn fliehen, von wo er nach kurzem Schulbesuch unter abenteuerlichen Umständen im Jahre 1940 mit seinen Eltern über Triest nach Shanghai entkommen konnte. Dort begann er sein Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie an der St. John’s University. Eine Fernsehdokumentation des ORF schilderte lebendig seine dortige Exilzeit, wo er sich u.a. als Boxer erfolgreich durchschlug. Nach abermaliger Emigration konnte er 1949 sein Studium der Philosophie in Berkeley (USA) beginnen, wo er u.a. auf die ebenfalls aus Österreich stammenden Else Frenkel und Egon Brunswik, Hans Kelsen und auf den jungen Wiener Philosophen Paul Feyerabend traf, mit dem er lange Zeit befreundet war — und der auch Mitherausgeber seiner Festschrift zum 70. Geburtstag 1992 ist. Parallel zu seinen philosophischen Studien absolvierte Kurt Rudolf Ausbildungen in Psychotherapie (Iransaktionsanalyse und Gruppendynamik), die er nach seiner Rückkehr nach Wien 1978 fortsetzte und mit einer Ausbildung in der Psychoanalyse ergänzte. In Berkeley graduierte er mit einem BA und MA (in Germanistik), bevor er 1964 den Ph.D. in Philosophie mit einer Dissertation über Franz Brentanos Philosophie der Evidenz erwarb. In den USA lehrte Kurt Fischer an der University of California in Davis und Berkeley, am Mills College in Oakland (übrigens auch die letzte Station des emigrierten Edgar Zilsel), an der City University in New York, an der Millersville University, Lancaster, Pennsylvania (wo er auch Lehraufträge am Franklin und Marshall College wahrnahm), und als Gastprofessor an der University of Chicago und an der Harvard University. Nach kurzen Studienaufenthalten in Österreich 1954/55 und 1966/67 kam er mit Hilfe einer Fulbright-Professur zurück nach Wien, wo er an der Universität ab 1978 als Gastprofessor und ab 1980 auch als Honorarprofessor bis zu seinem letztmaligen Weggang in die USA wirkte. Seine erste Frau, die ihm den inzwischen verstorbenenen ersten Sohn Kurt gebar, war 1960 an Leukämie gestorben. Er heiratete noch einmal und wurde Vater des zweiten Sohnes Rudi und der’Iochter Brigitte. Mit der Wiedererlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft schien einer erfolgreichen Remigration nichts mehr im Wege zu stehen, aber Kurt Fischer konnte trotz seines ausgesprochenen Wunsches am Institut für Philosophie keine bezahlte Position erhalten und musste sich bis zu seinem neuerlichen Weggang mit Lehraufträgen und Unterstützung durch seine Partnerinnen und Freunde im übertragenen Sinne „durchboxen“. Seit der Gründung des Instituts Wiener Kreis im Jahre 1991 war Kurt Fischer ein aktiver Mitarbeiter — als Vortragender, Autor und Herausgeber, Beiratsmitglied und langjahriges Mitglied des Vorstandes, weil ihm die Zielsetzung dieses außeruniversitären Instituts im Sinne einer Pflege, Verbreitung und Weiterentwicklung der analytischen Philosophie in der Tradition des Wiener Kreises ein persönliches Anliegen war. Es war ein großes Vergnügen, ihn als Kooperationspartner und Anreger zu erleben. Im Rückblick sind die gemeinsamen Forschungs- und Publikationsprojekte eine erfreuliche Manifestation dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit, z.B. anlässlich von Konferenzen über Egon Brunswik oder über Paul Feyerabend mit anschließenden Tagungsbänden. Daneben hat er (zusammen mit Robert Kaller) ein schönes und wichtiges Buch über Das goldene Zeitalter der österreichischen Philosophie (1. Auflage 1995) herausgegeben, das klassische Texte und Studien zum Titel des Sammelbandes vereint. Kurt Fischer hat seine wertvolle wissenschaftliche Bibliothek schon zu seinen Lebzeiten dem Institut Wiener Kreis für Studienzwecke überlassen, womit es ein permanentes Gut seines wertvollen wissenschaftlichen Nachlasses besitzt. Seit seiner veröffentlichten Dissertation hat sich Kurt Fischer intensiv mit der österreichischen Philosophie von Brentano bis zum Wiener Kreis kritisch auseinandergesetzt und dessen Weiterwirken in der analytischen Philosophie in Lehre und Forschung thematisiert, was z.B. in dem (Stanley Cavell gewidmeten) Sammelband mit 20 seiner Beiträge zur Philosophie aus Wien (1991) dokumentiert ist. Daneben faszinierte ihn bis zum Ende seines Lebens das geistige Leben der Wiener Jahrhundertwende, das er in mehreren Artikeln im Kontext von Carl Schorskes Fin-de-Siecle Vienna behandelte und mit Studien über den Zionismus, die Philosophie, Psychoanalyse und den Antisemitismus bereicherte. Der Titel seiner Festschrift zum 70. Geburtstag, Philosophie, Psychoanalyse, Emigration (1992), ist charakteristisch, aber keineswegs erschöpfend, für das Leben und Werk des Verstorbenen. Die Festschrift zu seinem achtzigsten Geburtstag trägt den Titel Weltanschauungen des Wiener Fin de Siecle 1900/2000; sie enthält weitere zahlreiche beeindruckende autobiografische und biografische Beiträge zu seinem Lebenswerk sowie Studien zu seinen Forschungsthemen. Das dortige Schriftenverzeichnis nennt fünf Monografien, sechs herausgegebene Bücher und zahlreiche Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften. Sein unstetes Leben zwischen zwei Kontinenten spiegelt sich auch im Band Aufsätze zur angloamerikanischen und österreichischen Philosophie (1999), der den Bogen von seiner erzwungenen Emigration bis hin zur Philosophie in Wien spannt. Zum Wiener Philosophischen Institut hat er zusammen mit Franz M. Wimmer eine bahnbrechende Tagung und Publikation über die lange Zeit vergessene und verdrängte Vergangenheit seiner Mitglieder während und nach der NS-Zeit unter dem bezeichnenden Titel Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930-1950 im Jahre 1993 herausgegeben. Dieses Projekt manifestiert einen längst fälligen Beitrag zur (selbst) kritischen Aufarbeitung der Institutsgeschichte und hat dementsprechend eine heftige öffentliche Kontroverse im Kontext der anstehenden „Vergangenheitsbewältigung“ ausgelöst. Auch im Rahmen der allgemeinen Universitätsgeschichte stellt diese Initiative einen wichtigen exemplarischen Baustein für eine umfassende Darstellung der Universität Wien im Nationalsozialismus dar. Kurt Fischer war nie ein bequemer Zeitgenosse: Er konnte provozieren und polarisieren, nahm sich aber selbst nicht aus dem Spiel und war deshalb immer auch selbstkritisch und selbstironisch. Er scheute sich nicht, Tabus anzusprechen und Außenseiterpositionen zu beziehen, ohne Rücksicht auf sich selbst und unter Vermeidung harmonischer Kompromisse. So beschäftigte er sich auch mit Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Karl May und Adolf Hitler Mai 2014 33