OCR
zu verbraucht sind, verschweigen sie, was man in Indien tatsächlich mit ihnen gemacht hat. Andernfalls würden sie von ihren Familien verstoßen. Manchmal jedoch lässt sich ihre Vergangenheit nicht verheimlichen. Viele der Mädchen leiden bei ihrer Rückkehr an dieser Krankheit, die AIDS heißt und von der ihnen bei ihrer Ankunft in Indien niemand gesagt hatte, wie man sie bekommt. Schließlich waren sie damals erst zwölf Jahre alt. Wenn immer ich Zeugin von so verzweifelter Armut werde, fange ich an mich zu belügen. Ich versuche mir vorzumachen, dass diese Menschen von ihrem Elend vielleicht gar nichts wissen, weil sie nie etwas anderes kennengelernt haben, dass es bestimmt eine Hilfsorganisation gebe, die sich ihrer bald annehmse, dass irgendeine Regierung sicher eine Lösung finden werde. Diese Lügen entstehen ganz ohne Vorsatz, sondern nur aus dem einfachen Grund heraus, dass es sich für mich nicht anders denken lässt. Ich glaube, das hat etwas mit diesem Anschluss zu tun, den man so unbedingt bekommen muss, damit man auf Reisen nicht verloren geht. Man weiß ja ungefähr, was man darf, was man nicht tun sollte, was gut ist und was gar nicht geht. Und plötzlich bleibt man an den Ufern des Bagmati stehen und sieht Dinge, die in keiner dieser Kategorien Platz finden. Mein Denken war nie dafür ausgelegt gewesen, zugedröhnte Kinder in Menschenasche wühlen zu sehen. Es scheitert an diesem Bild. Pashupatinath gilt als eine der wichtigsten Tempelanlagen des Hinduismus. Sie ist Shiva, dem wahrscheinlich widersprüchlichsten Gott des Hinduismus, gewidmet. Er gilt gleichzeitig als Gott der Schöpfung und des Bewahrens sowie auch als der Gott der Zerstörung. Ich interessiere mich nicht besonders für Religionen, für keine, aber als ich in den darauffolgenden Tagen zum ersten Mal die Gebirgskette des Himalaya sah, wo die Welt sich am höchsten erhoben hat, unnahbar schön und gelassen dalag, indessen Menschen zu ihren Füßen in größter Armut, Krankheit und Hunger leben, erschien es selbst mir plausibel, hier einen Gott und nur so einen Gott zu denken, der die größten Gegensätze von Schöpfung und Vernichtung, von Güte und Grausamkeit zu einen versteht. Als konkrete Handlungsanweisungen für ein korrektes Verhalten auf Reisen taugen diese kurzen Momente metaphysischer Erbauung zumeist nur wenig. Vor ein paar Tagen war ich auf einem Fischmarkt in der Umgebung von Phuket. Etwas abseits des Marktes sah ich eine Schar von Kindern neben einer nicht mehr benützten Toilettenanlage sitzen. Es handelte sich um einen kleinen, heruntergekommen Betonklotz, dessen Fassaden mit etwas verdreckt und verschmiert waren, von dem man nicht so genau wissen wollte, was es war. Mit Kartons und Plastikabfällen des Fischmarktes hatten sie sich dort eine Unterkunft gebaut. Ein vielleicht gerade einmal vier- oder fünfjähriger Junge kam auf mich zu und streckte mir in bittender Geste seine Hand entgegen. In meinem Reiseführer hatte ich gelesen, dass man bettelnden Kindern kein Geld geben solle, da sich die Kinder dadurch zum Betteln ermutigt schen könnten und deshalb vielleicht nie eine Schule besuchen würden. Diese Erklärung klang durchaus schlüssig, aber als der Junge dann vor mir stand, wusste ich nicht, wie das gehen soll. Wie sollte ich einem knochendürren Kleinkind in verwahrlosten Lumpen erklären, dass ich ihm den zerknüllten Schein in meiner Kameratasche nicht geben könne, ein Schein, von dem mir nicht einmal aufhiele, wenn er weg wäre, der für ihn aber ausreichen würde, um vier, fünf’Tage davon leben zu können, ohne betteln zu müssen? Ich habe ihm das Geld gegeben und hinzugefügt, dass Schule schr wichtig sei. Ich bezweifle, dass er mich verstanden hat. Wenn doch, hielt er mich aller Wahrscheinlichkeit nach für eine naive Irre und lag damit sicher nicht ganz falsch. Aber ich hatte in dieser Situation 48 _ ZWISCHENWELT a te Re Foto: Anja Blechowa ohnehin gar keine Chance gut wegzukommen, Situationen wie diese lassen sich einfach nicht „positiv bewältigen“, weil nichts Gutes darin liegt. Gerade gegenüber bettelnden Kindern habe ich oft das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen. Entschuldigen dafür, dass wir als Erwachsene ihnen eine Welt eingerichtet haben, in der sie betteln müssen, um überleben zu können. Ich weiß nicht, wie eine solche Entschuldigung aussehen könnte. Kurz vor meiner Abreise war das Bali-Abkommen zustande gekommen. Es wurde von einem historischen Moment gesprochen. Den Entwicklungsländern soll der Zugang zu den Märkten von Industrie- und Schwellenländern erleichtert und Agrarsubventionen sollen gekürzt werden. Indien hatte sich lange geweigert, den Vertrag zu unterzeichnen. Derindische Staat möchte weiterhin bei den eigenen Bauern Reis und Brotgetreide zu einem festgesetzten Preis kaufen und diese Nahrungsmittel für einen schr geringen, ebenfalls fixen Betrag an Arme weiterverkaufen. Ich konnte nichts Verwerfliches daran erkennen, dass ein Staat versucht, seine Landwirtschaft zu fördern und den Hunger seiner Bevölkerung zu bekämpfen. Später habe ich herausgefunden, dass diese Subventionen eine marktverzerrende Wirkung haben. „Subvention“ hatte für mich eigendich immer nach etwas Gutem geklungen. Die Europäische Union subventioniert Exporte und verbilligt somit deren Preise aufdem Weltmarkt. Dieses Preis-Dumping ruiniert die Märkte der Entwicklungsländer. Ich denke an den zerknüllten Schein aus meiner Kameratasche und daran, wie wenig ich über Weltwirtschaft weiß. Mein Interesse an Freihandelsabkommen mündete letztlich in eine Diskussion über den Import von Chlorhühnchen und Hormonschweinen. Ich fühle mich wohler bei Themen, die überschaubar bleiben. Es ist nicht so, dass ich es daraufanlegen würde, andere Touristen zu belauschen, aber mitunter komme ich nicht umhin, Teile ihrer Gespräche mitanzuhören. Die Gesprächsverläufe gleichen einander. Man spricht davon, wie erschreckend das Ausmaß der Armut hier sei, dass aber auch die Mentalität der Menschen hier einfach eine andere sei und sie schon eher als arbeitsscheu zu bezeichnen seien, besonders leid täten einem ja die Kinder, wobei man aber auch da sagen müsse, dass das viele Betteln oft schr lästig sei und, um die Liste misslicher Begleitumstände von Fernreisen letztlich zu vervollständigen, kommt man im Anschluss auf das dringlichste Thema zu sprechen — Durchfall. Die Freizügigkeit, mit der auf Urlaubsreisen über Verdauungsprobleme gesprochen wird, ist beeindruckend. Man ist fast geneigt anzunehmen, dass dieses Thema nur stellvertretend diskutiert und es die „persönliche Betroffenheit“ ist, die hier eigentlich verhandelt wird. Anders kann man sich das ja gar nicht erklären. Es steht mir allerdings nicht zu, andere lächerlich zu machen, solange ich mich nicht in der Lage sche, einen