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sinnvolleren Vorschlag einzubringen. Ich weiß selbst nicht, was ich mit dem, was ich auf meinen Reisen geschen habe, anfangen soll, kenne keine Erklärungen oder unternehme irgendeine Form von Besserungsversuch, dessen Nachhaltigkeit nicht spätestens in Doha im Transit verebbt. Hier sitze ich nämlich wieder. Zwei buddhistische Mönche ziehen ihre Handgepäck-Trolleys am muslimischen Gebetsraum vorbei. Aufirgendeinem Nachrichtensender habe ich vor Kurzem ein Video gesehen, in dem ein buddhistischer Mönch an der Ermordung eines burmesischen Moslems beteiligt ist. Ich frage mich, ob das Video hier sonst noch jemand kennt und ob das überhaupt eine Rolle spielt. Schließlich sind wir hier im Transit. Wir sind aufder Durchreise. Keiner bleibt. Die Konflikte sind hier beigelegt. Ich sitze in der Raucher-Zone, denke an Shiva und daran, dass ich eigentlich nach Hause möchte. Dort werde ich Berichte über die Proteste in Bangkok lesen, mich vielleicht noch einmal zaghaft an das Subventionsthema heranwagen, schnell den Durchblick verlieren, aufgeben, mir das Video aus Lampedusa anschen, die europäische Asylpolitik recherchieren, an der Komplexität des Ihemas scheitern. Ab und an werde ich dabei empört sein, es wird eine Empörung sein, die flach bleibt und zu nichts führt. Ich werde meine Urlaubsfotos sortieren. Auf einem sieht man mich von hinten, wie ich auf diesem Fischmarkt in Phuket stehe und in Richtung der Baracken sche, in denen die Verkäufer leben. Kurz davor dürfte ich dem Jungen begegnet sein. Auf dem nächsten Foto stehe ich mit meiner Familie vor dem Buffet, an dem vor der Silvestergala Hors d’ceuvres gereicht wurden. Mein Computer schlägt mir vor, dieses Foto als „neues Ereignis“ in das Fotoarchiv aufzunehmen. Ich denke, das macht Sinn, denn dazwischen fehlt ganz offenkundig etwas. Ich weiß nicht genau, was es ist, nichtsdestotrotz schäme ich mich dafür. Anja Braunwieser, 1982 in Salzburg geboren, studierte nach ihrer Matura am katholischen Gymnasium der Ursulinen Philosophie an der Universität Salzburg. 2002 wechselte sie nach Wien, um dort ihr Studium fortzusetzen. 2007 begann Anja Braunwieser das Studium der Fotografie bei Gabriele Rothemann an der Universitat fiir Angewandte Kunst. Seit 2011 studiert sie Sprachkunst an der Universitat für angewandie Kunst in Wien. 2013 wurde ihr Essay „Privileg der Narren“ in der Zeitschrift Literatur und Kritik publiziert. Ich möchte leben. Ich möchte lachen und Lasten haben Und möchte kämpfen und lieben und hassen Und möchte den Himmel mit Händen fassen Und möchte frei sein und atmen und schrein. Ich will nicht sterben. Nein! Nein, Das Leben ist rot. Das Leben ist mein. Mein und dein. Mein... ist eines der berührenden, ergreifenden siebenundfünzig Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger, dem jungen Mädchen aus Czernowitz, das, 1941 mit ihrer Familie in ein Todeslager nach Transnistrien deportiert, 1942 unter unmenschlichen Verhältnissen mit 18 Jahren an Entkräftung und Typhus starb. Am 7. Juli 1941 schrieb sie dieses Gedicht unter großen Ängsten, bereits Todesängsten. Professor Peter Rychlo, der bekannte und wichtige Literaturkenner an der Czernowitzer Universität, schreibt darüber in seinem Vorwort zu dem frisch gedruckten Büchlein von Margit Bartfeld-Feller Selma Meerbaum-Eisinger, 1924 — 1942 — Erinnerungen ihrer Schulfreundin. Im Februar 2014 wäre Selma 90 Jahre alt geworden. Eine wunderbare und wichtige Hommage an die Schulfreundin ist das Büchlein, das Professor Wiehn in Konstanz herausgegeben hat. — Margit Bartfeld-Feller, die Autorin und Schulfreundin von Selma Meerbaum-Eisinger, wurde 1941 von den Sowjets mit den Eltern und dem Bruder Otti bei Nacht und Nebel aus Czernowitz nach Sibirien in die Taiga deportiert. Margit überlebte, gestaltete ihr Leben in der Verbannung, über fünfzig Jahre in Sibirien, bis sie 1990 nach Israel auswandern durfte. Der Czernowitzer Klassenkameradin Renee Abramovici-Michaeli begegnete sie in Israel wieder. Renée hatte die Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers von Leiser Fichman übernommen, der auf der Flucht nach Palästina ertrunken war. Hersch Segal, der ehemalige Mathematiklehrer aus Czernowitz, gab sie im Privatdruck unter dem Titel „Blütenlese“ 1975 in Israel heraus. 1980 erschienen Selmas Gedichte in Deutschland, herausgegeben von dem Schriftsteller und Journalisten Jürgen Serke. „Damit begann Selmas Weg in die Weltliteratur“, meint Serke. Selmas Gedichte wurden in unterschiedlichen Variationen vertont, zum Theaterstück gewandelt, in wichtigen Anthologien immer wieder gedruckt. Gelesen und vorgetragen wurden diese zauberhaften Liebesgedichte an einen Freund in vielen künstlerischen Interpretationen, u.a. von der Berliner Schauspielerin Tatjana Blacher in der Stubengalerie in Berlin-Grunewald und von Iris Berben im Jüdischen Museum Berlin bei der Vorstellung der großen Anthologie von Herbert Schmidt („Ist es Freude, ist es Schmerz? Jüdische Wurzeln — deutsche Gedichte“, Düsseldorf 2012). Im Jahr 2004 wurde eine Gedenktafel für Meerbaum-Eisinger am Wohnhaus der Eisingers in Czernowitz angebracht. 2012 schrieb die Schauspielerin Iris Berben das Vorwort zu dem Band Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund (in deutscher und ukrainischer Sprache), Peter Rychlo das Nachwort. „Selma gibt mir Kraft“ ist das leidenschaftliche Bekenntnis von Margit Bartfeld-Feller zu Beginn ihres Büchleins. Beiträge und Erinnerungen von Peter Rychlo, Erhard Roy Wiehn, Elisabeth Rosenfelder, Gesine Keller, David Klein und Jürgen Serke sind im Büchlein enthalten. Erinnerungen Margit Bartfeld-Fellers an die 2003 verstorbene Schulfreundin Renee Abramovici-Michaeli sind ebenfalls abgedruckt und nicht zuletzt ein berührender Dankesbriefvon Franziska Kurze aus Deutschland an Bartfeld-Feller. Christel Wollmann-Fiedler Margit Bartfeld-Feller: Selma Meerbaum-Eisinger 1924-1942. Erinnerungen ihrer Schulfreundin. Hg. von Erhard Roy Wiehn. Serke. Vorwort von Peter Rychlo. Konstanz: Hartung Gorre 2013. 78 S. Euro 16,Mai 2014 49