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Die Praxis des Proletariats als revolutionäre Klasse kann für Debord „nicht weniger sein als das geschichtliche Bewußtsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt.“ (S. 64) Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob das Proletariat dieses geschichtliche Bewusstsein auch har. Dennoch bleibt fiir Debord — zumindest noch in Die Gesellschaft des Spektakels — das Proletariat jene Menschengruppe, die als Klasse die Emanzipation zu verwirklichen, den Fetischismus und das Spektakel zu durchbrechen und aufzuheben hat. Subjektiv sei das Proletariat „noch von seinem praktischen Klassenbewußtsein entfernt.“ (S. 102) Wenn aber das Proletariat entdeckt, „daß seine geäußerte eigene Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, [...] entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche Erfahrung, daß es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht total feind ist.“ (S. 102£.) Anders als in der Kritischen Theorie wird von Debord die Emanzipation noch mit dem Selbstbewusstsein des Proletariats zusammengedacht. Das Proletariat erschien ihm kurz vor den Ereignissen des Pariser Mai von 1968 als „einzigelr] Bewerber um das geschichtliche Leben“. (S. 71) In den Kommentaren ist dann jedoch jener kritische Pessimismus, der auch die Texte Adornos seit dem Nationalsozialismus prägte, in potenzierter Form anwesend: „Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. [...] Es ist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann.“ (S. 213) Die Vorstellung Debords, wie das Proletariat zu einem systemtransformierenden Bewusstsein gelangen kann, war allerdings schon in den 1960er Jahren beachtlich. So sehr er ein Freund der Spontaneität war, so sehr war ihm doch bewusst, dass ein unmittelbar und unreflektiert artikuliertes Unbehagen keineswegs von sich aus über das Spektakel hinausweist. Er war sich im Klaren darüber, „daß die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware geworden ist.“ (S. 48) Debord sah die einzige Möglichkeit, dass die Revolution doch einmal Wirklichkeit werden könnte, in der massenhaften Aneignung radikaler Gesellschaftskritik: „Die proletarische Revolution hängt gänzlich von der Notwendigkeit ab, dass die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, dass die Arbeiter zu Dialektikern werden und dass sie in die Praxis ihr Denken einschreiben“. (S. 107) Noch wenige Jahre zuvor war die Begeisterung für spontane Protest- und Widerstandsaktionen bei den Situationisten sehr viel ausgeprägter. Nach der ordnungsapologetischen und staatsfetischistischen Kritik fast aller linken Strömungen an den Krawallen in Watts 1965 schwang sich die Situationistische Internationale in der zehnten Nummer ihrer gleichnamigen Zeitschrift zu einer vehementen Verteidigung der Aufstände und Riots auf. Sie nahm die Randalierenden aber nicht nur gegen die Angriffe der reformistischen und mit der Herrschaft fraternisierenden Linken in Schutz, sondern deklarierte die ganze Angelegenheit zu einer „Revolte gegen die Ware“ und bescheinigte den Plündernden, dass sie den „Tauschwert und die Warenwirklichkeit“ ablehnen. Den scheinbaren Subjektstatus der Ware sahen sie im Riot aufgehoben: „Der Mensch, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Waren.“ Diebstahl erscheint den Situationisten als antikapitalistischer, den Fetischismus der biirgerlichen Gesellschaft aufhebender Akt: „Sobald die Warenproduktion nicht mehr gekauft wird, wird sie kritisierbar [...]. Nur wenn sie mit Geld [...] bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetisch respektiert.“ Die Ambivalenzen, die in jedem spontanen Widerstand gegen die fetischistische Warenherrschaft enthalten sind, der sich der Struktur und Funktionsweise von Okonomie und Politik nicht bewusst ist, wird nicht thematisiert. Die richtige Verteidigung der Respektlosigkeit gegeniiber den Eigentumsverhältnissen wird hier zur falschen Annahme, diese Respektlosigkeit impliziere von sich aus eine Kritik am Eigentum überhaupt. Der Dieb kritisiert aber nicht die Ware, sondern eignet sie sich an - eine Erkenntnis, die in den siebziger Jahren auch im Umkreis der Situationisten zu vernehmen war: „Der Diebstahl, auch wenn ihm die Verteilung folgt, stellt den Kapitalismus überhaupt nicht in Frage; er ist im Gegenteil eine seiner Ausdrucksformen. “!° Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus — Unverständnis des Zionismus Die von Debord zeitlebens formulierte Kritik sowohl der faschistischen wie auch der stalinistischen Herrschaft zeigt eine Parallele zu Adorno und Max Horkheimer auf, aber die Ausblendung des spezifisch nationalsozialistischen Antisemitismus markiert die entscheidende Differenz der Situationisten zur Kritischen Theorie. In Debords Hauptwerk, das „immerhin das Wesen der Gegenwart auf den Begriff zu bringen verspricht, findet sich kein Wort über Antisemitismus, Nazismus, Massenvernichtung.“!” Debords eingangs zitiertes erkenntniskritisches Diktum, dass die Wahrheit dieser Gesellschaft nichts anderes sei als die Negation dieser Gesellschaft, ist in seiner Allgemeinheit ebenso richtig, wie es nach dem Nationalsozialismus, der barbarischen Negation der bürgerlichen Gesellschaft, durch eben diese Allgemeinheit falsch wird. Die Negation orientiert sich hier ausschließlich am Marxschen kategorischen Imperativ aus dem Jahr 1844, nicht aber an Adorno, der in Reflexion auf die Katastrophe in der Negativen Dialektik fordert, alles Denken und Handeln im Stande der Unfreiheit so einzurichten, dass Auschwitz oder etwas Ähnliches sich nicht wiederhole. Die Situationistische Internationale teilte mit der von ihr so scharf kritisierten Linken die Ignoranz gegenüber dem kapitalentsprungenen Antisemitismus, was ihr auch ein Verständnis des Zionismus, der Notwehrmaßnahme gegen diesen Antisemitismus, von vornherein unmöglich machte. Der Zionismus und Israel waren weder für die SInoch für Debord ein großes Thema. Dennoch gibt es einige Äußerungen dazu. Die Unterschiedlichkeit dieser Äußerungen weist gewisse Parallelen zur Entwicklung der deutschsprachigen Linken auf. In Zwei lokale Kriege, einem Text, der im Oktober 1967 in der Nummer 11 des Organs der SI erschien und vermutlich von Mustapha Khayati verfasst wurde, wird das am deutlichsten. Zunächst geht es in diesem Text um eine linkskommunistische Kritik am sozialdemokratischen und linkssozialistischen Arbeiterzionismus mit seinen realsozialistischen Erscheinungsformen wie etwa der Einheitsgewerkschaft Histadrut. Khayati macht sich über das manichäische Denken des europäischen Antiimperialismus lustig, liefert eine knappe Kritik der leider bis heute hoch im Kurs stehenden Leninschen Imperialismusvorstellung und formuliert, ausgehend von Überlegungen der Rolle der USA im globalen Prozess von Ausbeutung und Herrschaft, seine Kritik an der US-Außenpolitik. Doch seine Haltung gegenüber Israel ist von Ignoranz gegenüber der geschichtlichen Notwendigkeit des Zionismus und von einer völligen Ausblendung der Shoah geprägt. Die pogromartigen Ausschreitungen der arabischen gegen die jüdische Bevölkerung in den 1930er Jahren fungiert in Zwei lokale Kriege als „bewaffneter Aufstand“, der glücklicherweise gegen das anfängliche Zögern der arabisch-nationalistischen Führer angezettelt worden sei. Das Scheitern dieses zugleich antikolonialen wie antisemitischen Aufstandes unter der Führung des mit den Nazis kooperierenden Mufti von Jerusalem bezeichnet die Slals „Katastrophe“. So ist es auch kein Wunder, dass sich die SI 1967, sechs Jahre vor dem Jom Kippur-Krieg, dafür ausspricht, den israelischen Staat von einer „revolutionären arabischen Bewegung“ „auflösen“ zu lassen." In diesen Punkten kann eine radikale Gesellschaftskritik von Debord und der SI nichts lernen und an nichts anknüpfen. Da gibt es nichts zu retten. Zum traurigsten Erbe der Situationisten gehört denn auch, dass sich in den diversen, vor allem in Frankreich aktiven pround postsituationistischen Zirkeln zahlreiche bekennende Antisemiten und Holocaustleugner tummeln, deren Vereinnahmung Debord sich doch bis zuletzt verweigerte.'? Mai 2014 59