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Anmerkungen zu Fetisch & Spektakel 1 Guy Debord: Panegyrikus. Erster Band. Berlin 1997 [1989], S. 41. 2 DB mobil, Nr. 11, 2001, S. 74. 3 Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996 [1967], S. 67. Soweit nicht anders angegeben, beziehen sich die Seitenzahlen im Text auf diesen Band. 4 Siehe ausfiihrlich dazu Stephan Grigat: Fetisch und Freiheit. Uber die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus. Freiburg 2007. 5 Jost Miiller: Die verstellte Einsicht des M. Debord. Spektakel, Metasprache und Marxismus aus der Sicht von heute. In: Subtropen — Supplement zur Jungle World, Nr. 37, 2001, S. 6. 6 Thomas Ballhausen: Latenz und Aktualität. Marginalien zu Guy Debord als literarischem Medienarbeiter. In: Stephan Grigat/Johannes Grenzfurthner/Günther Friesinger (Hg.): Spektakel - Kunst — Gesellschaft. Guy Debord und die Situationistische Internationale. Berlin 2006, S. 211. 7 Thomas Ballhausen: Die unausgesetzte Attacke. Uber die Aktualität von Guy Debords Denken. In: derive. Zeitschrift für Stadtforschung, Nr. 46, 2012, S. 47. 8 Joachim Bruhn: Karl Marx und der Materialismus. "Thesen über den Gebrauchswert des „Marxismus“. In: Reet Kudu Bahamas, Nr. 33, 2000, S. 64. 9 Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels-Werke, B. 1, Berlin 1988 [1844], S. 385. 10 Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. In: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main: Fischer 2009 [1937], S. 201. 11 Vgl. Jan Weyand: Adornos Kritische Theorie des Subjekts. Lüneburg 2001, S. 10. 12 Die Debordsche Kritik am bürgerlichen Wahrheitsund Rationalitätsbegriff findet sich auch bei Autoren aus dem Umfeld der Situationistischen Internationale. Emile Marenssin wendet sich nachdrücklich gegen einen Vernunftbegriff, der losgelöst von der eigenen kritischpraktischen Intention existiert: „Vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet, wird der Kommunismus die Gesellschaft des Irrationalen sein, die Gesellschaft der Verrückten. [...] Die Rationalität des Kommunismus wird die Irrationalität des Kapitalismus sein.“ Emile Marenssin: Stadtguerilla und soziale Revolution. Über den bewaffneten Kampf und die Rote Armee Fraktion. Freiburg 1998 [1972], S. 110. 13 Vgl. Stephan Grigat: Von der positiven zur negativen Dialektik. Fetischkritik und Klassenbewusstsein bei Georg Lukäcs. In: Georg Lukäcs u.a.: Verdinglichung, Marxismus, Geschichte. Von der Niederlage der Novemberrevolution zur kritischen Theorie. (Hrsg.: Markus Bitterolf/Denis Maier). Freiburg 2012, S. 323ff. Der Schweizer Schriftsteller Andreas Iten schreibt: „Josef Stalin soll 1932 vor ausgewählten Moskauer Schriftstellern in einem Trinkspruch gesagt haben: ‚Unsere Panzer sind wertlos, wenn die Seelen, die sie lenken müssen, aus Ion sind. Deshalb sage ich: die Produktion von Seelen ist wichtiger als die von Panzern...‘, Künftig erwarte er von ihnen, dass sie vom arbeitenden Sowjetmenschen schreiben würden und damit vom Ruhm des kommunistischen Aufbaus. Auf einen kurzen Nenner gebracht: „Schriftsteller sind Ingenieure der menschlichen Seele.‘ Ingenieure arbeiten nach vorgegebenen Plänen, bauen Brücken und Häuser nach statischen Berechnungen und stehen im Dienst des Bauherrn. Stalins Kulturpolitik erstickte die Literatur und machte sie zur Magd des Sowjetstaates. Haben die langst verstorbenen russischen Schriftsteller, von denen wir heute noch héchstens Maxim Gorki kennen, und die sich an Stalins zynische Trinkspruch-Vorgabe halten sollten, etwas Kreatives zustande gebracht? Wohl kaum. Ansätze einer freien, jungen Sowjetliteratur wurden damals erstickt, ihre Autoren vertrieben, totgeschwiegen oder fielen den Säuberungen zum Opfer. Anna Achmatowa, Michael Bulgakow, Ossip Mandelstam, die bleibende Werke hinterlassen haben und an jenem Oktoberabend 1932 nicht dabei waren, litten besonders unter Stalins Repressionen. Ja, die Kreativität hält sich nicht an vorgegebene Grenzen. Sie überschreitet das Gewöhnliche und das Erwartete, benimmt sich ähnlich wie der Hofnarr, für den die Narrenfreiheit galt und der somit (meist) ungestraft Kritik an den herrschenden 60 _ ZWISCHENWELT Verhältnissen üben konnte, die sein Herrscher gar nicht gerne hörte. Kritik stört, dass wissen alle, die von einem Sachverhalt sagen: So ist es zwar, aber es könnte auch anders sein. ... Der Schriftsteller ist eben kein Ingenieur der Seele. In einer Demokratie herrsche Freiheit, glaubt man zumindest. Dennoch gilt die Narrenfreiheit nicht mehr allzu viel ...“ („Schreiben in dürftiger Zeit“, Neue Luzerner Zeitung, Juni 2013). Wie geht es nach dem Umbruch in der Sowjetunion in Estland nun weiter? Ist unsere Kultur Magd des Staates geblieben oder freier Geist in einer freien Republik geworden? Viele in Sowjet-Estland geborene Russen haben ebenso fiir die Freiheit der Baltischen Staaten geschwarmt und 1989 an der großen Menschenkette von Tallinn nach Vilnius teilgenommen. Die Begeisterung von damals schwand in dem Maße, in dem die Esten den Russen immer zurückhaltender begegneten. Ich rede hier von den Parteisekretären und den Funktionären aus dem Zentralkomitee: Vor der Wende hatten sie hehre Anwandlungen von einer Vereinigung der Proletarier aller Länder, obwohl die Proletarier keine Rechte hatten, außer für ein paar erbärmliche Kopeken in den Fabriken zu schuften und als Leibeigene im Imperium festzusitzen. Jetzt verbreiten dieselben alten Sowjetsekretäre Losungen von der Vereinigung der Esten aller Länder, und das Volk lebt von ein paar erbärmlichen Cent... Die Sowjernomenklatur riss sich einfach die staatlichen Ländereien und Besitztümer unter den Nagel, um den Kuchen nicht mehr mit Moskau teilen zu müssen. Für das Volk blieben Hungerrenten, Arbeitslosigkeit, Staatenlosigkeit 14 Anselm Jappe: Politik des Spektakels — Spektakel der Politik. Zur Aktualität der Theorie von Guy Debord. in: krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft, Nr. 20, 1998, S. 109. 15 Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 176. 16 Marenssin: Stadtguerilla, S. 132. 17 Joachim Bruhn: Der Untergang der Roten Armee Fraktion. Eine Erinnerung für die Revolution. In: Marenssin, Stadtguerilla, S. 24. 18 Zwei lokale Kriege. In: Der Beginn einer Epoche, S. 212ff. 19 Siehe dazu Andreas Benl: Debord lesen in Teheran. Die Situationistische Internationale, der Antisemitismus und die orientalische Ideologie. In: sans phrase. Zeitschrift fiir Ideologiekritik, Heft 2, 2013, S. 204. Benl verweist darauf, dass Debord sich am Ende seines Lebens mit den Protokollen der Weisen von Zion auseinander gesetzt hat und darüber räsonnierte, ob das Erscheinen dieser antisemitischen Fälschung nicht gar als Beginn des modernen Spektakels betrachtet werden müsste — was der gesamten bis dahin formulierten Kritik des fetischistischen Spektakels eine völlig andere Richtung geben und sie sehr viel näher an Überlegungen Adornos und Horkheimers zur „antisemitischen Gesellschaft“ rücken würde. und die gehorsame Lobpreisung der Sowjetherren, wie zu Zeiten des Kommunismus. Jedem Handlanger wurde zum Dank etwas zugeworfen, alle anderen litten unter Erniedrigungen und Angst. Nur die Schimpfwörter hatten sich geändert: Hatte der estnische Sowjetfunktionär eine bekannte russische Künstlerin früher als „Avantgardistin“ und „bourgeoise Missgeburt“ beschimpft, war sie nunmehr eine „Besatzerin“ und eine „russische Missgeburt“. Aber seine Miene und sein Tonfall waren die namlichen wie vor der Wende, und so wurde aus dem Freiheitsrausch fiir die Russin ein neuer Albtraum. Der Funktionär des neuen Nationalismus ließ seinen Beschimpfungen immerhin auch einen Vorschlag folgen: Er war bereit, für die international bekannte Künstlerin eine Ausnahme zu machen, aber dafür sollte ihm die Russin ein paar ihrer Bilder, besser gesagt, einige oder vielmehr mindestens zehn davon schenken! Dann ließe sich vielleicht etwas machen, damit sie die estnische Staatsbürgerschaft leichter bekäme, denn die Bilder der Russin brächten im Ausland, „warum auch immer“, eine ordentliche Stange Geld ein. „Warum auch immer“ — in diesen Worten lag Verachtung, gepaart mit Gier. Die russische Künstlerin gab keine Antwort, sondern brach in Gelächter aus, genau wie damals, mehrere Jahre zuvor, als der Komsomol-Funktionär ihre Bilder mit Müll von Picasso verglichen hatte, für den ein Sowjetbiirger keine Verwendung habe. Die früheren Sowjetführer, die mittlerweile zu Volksführern mutiert waren, ärgerten sich aber über nichts so sehr wie darüber, ausgelacht zu werden. Die Russin wurde in diesem Augenblick