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TV-Sender TVR 1 eine erschütternde Dokumentation zum 73. Jahrestag der Rebellion der Legionäre, die vom 21. bis 24. Januar 1941 in Bukarest unbeschreiblich brutal gegen die Juden und ihre Einrichtungen vorgegangen sind. Diese zwei Beispiele legen die Vermutung nahe, dass die eingangs erwähnte rumänische Fassung heutzutage in Rumänien auf fruchtbaren Boden stoßen dürfte. Wünschenswert ist es und überfällig auch. Beatrice Ungar Simon Geissbühler: Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 2298. Diese Rezension erschien zuerst in der Hermannstadter Zeitung, Ausgabe Nr. 2366 vom 23. Januar 2014. Lena Muchina ist sechzehn Jahre alt, als sie im Mai 1941 ein Tagebuch beginnt. Ein Monat später beginnt für Russland der Krieg. Er nähert sich der Stadtgrenze von Leningrad, heute St. Petersburg, doch noch ist nicht abzusehen, wie heftig die Tortur ist, welche die Einwohner in den folgenden zweieinhalb Jahren begleiten wird: die Einkesselung der Stadt durch deutsche und finnische Soldaten, das Aushungern von letztlich rund einer Million Menschen, die tödlich kalten Winter, die Beschießungen. „Kälte, Angst, Qualen, Tod, vor allem aber Hunger - Synonyme für die Blockade. (...) Bis heute stapeln sich in den Regalen im Keller meiner Eltern Konservendosen, Nudeln, Reis, Knäckebrot bis an die Decke. Nie wieder will mein Vater Hunger leiden.“ (Zitiert nach dem Vorwort von Lena Gorelik). Du beginnst ein Tagebuch. Mit dem Gedanken, dass es dich begleiten wird, nimmst du es in die Hand, dieses seltsame Ding. Du spürst sein Gewicht. Wie merkwürdig sie ist, die Möglichkeit, sein Leben in ein Buch zu füllen. Es fühlt sich an, als hättest du einen neuen Gesprächspartner gefunden. Als müsstest du dich ihm erst einmal vorstellen. Du nimmst dir Zeit, zu überlegen. Wie präsentiere ich mich jetzt am besten? Was sage ich zuerst? Was verrate ich als Erstes über mich? Lena beginnt mit einer Aufzählung. Auf die Minute genau führt sie an, wann sie sich heute, am 22. Mai 1941, nachdem sie am Vortag die ganze Nacht Literatur gelernt hat, wo befindet, was sie genau tut. Schreibt, dass sie Literatur öde findet. Das ist erstaunlich, denn Lena besitzt großes literarisches Talent: wie sie Liedtexte niederschreibt und Gedichte, manche von ihr selbst verfasst. Wie sie Menschen zitiert, wie sie sich Fragen stellt. Wie sie reflektiert, manchmal pathetisch, manchmal komisch und immer klug. Nur einen Absatz braucht es, bis sie über ihr brisantestes Ihema zu schreiben beginnt. Nein, darüber spricht. Denn so ist Lenas Sprache, so lebendig, als würde sie sich direkt an einen wenden. Lena spricht mit ihrem Tagebuch und spricht mit uns. Der Mittelpunkt ihres Lebens, das brisanteste Thema, ist die Schule und sind die Menschen, mit denen sie ihre Schultage verbringt. Es sind aber auch Mama Lena, ihre Ziehmutter, und Aka, eine Freundin der Familie, bei denen sie aufwachst. Und es ist Wowka, der Junge, in den sie verliebt ist: „Für eine Minute vergaß ich mich, legte 66 _ZWISCHENWELT meinen Kopf auf die Bank. Aber als ich wieder zu ihm blickte, o nein, kann das wahr sein, das, wovor ich Angst hatte, da war er, mein lieber Wowka, genauso wie damals im "Theater, im selben Anzug, und das Lächeln war auch dasselbe. Meine Schüchternheit war wie weggeblasen, genau, ihn, ja ihn liebe ich mehr als alle anderen und war gar nicht verlegen wegen dieser Gedanken.“ Lena ist sechzehn. Sie beobachtet, wie sich die Jungen ihr und ihren Freundinnen gegenüber verhalten, sie nimmt genau wahr, was in ihrem Umfeld passiert. Und sie erzählt es ihrem Tagebuch und uns, beinahe jeden Tag: Wann Wowka ihr Blicke zuwirft und wie sein Gesicht dabei aussieht; wie die Mädchen sich manchmal doch nicht so verhalten, wie es beste Freundinnen tun sollten; was in welcher Schulstunde passiert, was sie lernen muss und welche Noten sie bekommt. Wenn es Lena einmal nicht schafft, ihren täglichen Eintrag zu machen, dann erklärt sie beim nächsten Mal, wie ihr Gewissen sie deswegen plagt. Als hätte sie einen Freund versetzt. „Ich habe beschlossen, mein Tagebuch nun ordentlich zu führen. Das ist auch für mich später interessant (...) Ich will in meinem Tagebuch alle meine Erlebnisse beschreiben, alle, alle.“ Sie ist eine Sechzehnjährige, die ihre Emotionen im Gespräch mit ihrem Tagebuch genau analysiert und dies immer wieder mit einer Reife, die man von einer Jugendlichen nicht unbedingt erwarten würde. Lena erwähnt, welche Musik sie hört, welche Stücke sie sieht und auch, welche Bücher sie liest. In den Einträgen vom 22. Mai bis zum 22. Juni 1941 fließt ihre Sprache in einem Rhythmus, der erkennen lässt, dass sie ein Mädchen ist, das Zwischentöne hören kann. Dass sie eine Schreiberin ist, die sprachlich umsetzt, was sie aufnimmt, was ihr gefällt. Besonders lesbar wird dies ab dem Tag, an dem sie exakt ein Monat lang Tagebuch geführt hatte - an dem Tag, an dem sie schreibt: „Um 12 Uhr 15 lauschte das ganze Land der Ansprache des Genossen Molotow. Er teilte mit, dass deutsche Truppen heute um vier Uhr früh ohne Kriegserklärung unsere Westgrenze überschritten haben.“ Sofort beginnt Lenas Ton sich zu verändern, als würde sie zitieren, was sie im Radio hört: „Wir werden siegen, aber dieser Sieg wird nicht einfach sein. (...) Das wird ein wilder, erbitterter Krieg werden. (...) Wir werden siegen, Kameraden!“ Es ist spannend, zu beobachten, wie schnell Lenas Worte einen Propagandajargon annchmen; erst in einer Form, in der sie vermutlich tatsächlich Zitate wiedergibt und später auf subtilere Art, indem sich ihr Sprachrhythmus verändert. Er wirkt getriebener, härter. Hier wird erneut erkennbar, wie präzise Lena Sprache aufnimmt, wie groß ihr Gespür ist. Ein Monat lang hat Lena zu diesem Zeitpunkt Tagebuch geführt. Elf werden noch folgen. Passagen über Wowka, Lenas Freunde und ihren Alltag vermischen sich jetzt mit Passagen über die immer größer werdende Bedrohung in den Straßen von Leningrad. Über die Bombardierungen, über die Gerüchte, die umgehen. Die Einwohner sind nicht gefasst auf einen Angriff, sie versuchen, sich in der unerwarteten Situation zu orientieren. Auch Lena muss sich neu orientieren —- und die Form ihrer Einträge verändert sich. Sie werden listenarüg, als versuche sie, dadurch den Überblick zu behalten. Das Nacherzählen von Gesprächen hört bald ganz auf, diese Lebendigkeit verschwindet aus Lenas Texten. Ihre Schule hat den Betrieb noch nicht eingestellt, aber die Aufgaben der Schüler sind nun andere: Der Alltag ist eine Mischung aus Aufenthalten in Luftschutzkellern, Erdarbeit und dem Warten auf Nachrichten von der Front. In Lenas Tagebuch häuft sich der Begriff wir. Es wird spürbar, dass sich die Leningrader selbst zu einer Front zusammenschließen, zu einem festen Kern, der sich in seiner Härte besser wehren kann als der verletzliche Einzelne. Nichtsdestotrotz wird der Kampf später einer sein, den jeder allein führt, wie Lena sagt. Lena ist noch in Kontakt mit ihren Freunden, sie erzählt Geschichten über ihre Schicksale. Sehr schnell aber verliert sich der Kontakt, man erfährt immer weniger über die Menschen, mit denen man früher jeden Tag verbracht hat. In ihrer Notsituation wendet sie sich der Familie zu, und die drei Frauen halten zusammen. Lena berichtet über die sich häufenden Fliegeralarme, sie listet sie genau auf, wann sie beginnen, wie lange sie dauern. Sie berichtet, was an der Front passiert, beobachtet sich und ihr Leben so genau wie vorher, nur sind es nicht mehr die Blicke Wowkas, die sie beschäftigen. Leningrad hat immer weniger Nahrung zur Verfügung. Und je weniger es gibt, desto weniger schreibt Lena über ihre Gefühlswelt und desto mehr über Essen. „Wenn du satt bist, reicht dir das Meer nur bis zum Knie.“