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mitunter etwas waghalsig anmutende Vergleich mit Vergangenem taucht an mehreren Stellen auf. Nur eine fundierte Auseinandersetzung mit Mehrheits- und Minderheitenbeziehungen könne zu Konfliktlösungen und Entschärfungen beitragen, mahnen die Autoren. Im letzten Abschnitt „Zur aktuellen Lage“ stehen verschiedene Aspekte heutiger Zustände von Mehrheits-Minderheitsverhältnissen und der gesellschaftliche und politische Umgang damit im Mittelpunkt. Der Vorrang des ökonomischen Nutzens in gesellschaftlichen Fragen und eine zunehmende Entsolidarisierung, beides Ergebnis der Doktrin des Neoliberalismus, werden als gefährliche Tendenzen kritisiert. Aktuelle Phänomene wie der in „Mode“ gekommene Minderheitenstatus oder die wiederkehrende Angst vor „hohen Fruchtbarkeitsraten“ von Minderheiten, werden skeptisch beleuchtet. Am Ende des Buches pladieren die Autoren für eine ernsthafte Beschaftigung mit dem Thema, welche das Tabuisieren und Totschweigen, die Bagatellisierung von Problemen, ausschließe. Sie sehen nicht zuletzt eine laizistische Gesellschaft, die den religiösen Fundamentalismus aller Konfessionen ablehnt, als Bastion gegen einen konfliktreichen Umgang mit Minoritäten. Exil in Schweden Es sind die Geschichten der „im Exil in Schweden“ Überlebenden, die das Buch zu etwas Besonderem machen, und die Reflexionen ihrer Nachkommen, für die sich die Begriffe Heimat und Exil umgekehrt hatten. Von den Überlebenden erfahren wir auch die Geschichten jener, die nicht überlebt haben, die zurückbleiben mussten, deportiert und ermordet wurden. Festgehalten wurden die Erinnerungen auf der Tagung der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge) zum österreichischen Exil in Schweden. Sie fand im Juni 2010 in der Residenz des schwedischen Botschafters in Wien statt. Umrahmt wurden die persönlichen Erfahrungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Flüchtlingspolitik des Aufnahmelandes Schweden, zu den Institutionen, die die Auswahl der Aufzunehmenden und damit indirekt Entscheidungen über Leben und Tod trafen, die engagierte Fluchthilfe und Unterstützung im Exil leisteten. Die Tagungsbeiträge bilden die Basis für den Ende 2013 erschienenen Sammelband. Ermöglicht wurde er dank der Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, des Zukunftsfonds der Republik Österreich, des Kulturamtes der Stadt Wien, Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung, sowie der Schwedischen Botschaft in Wien, die auch mit den Grußworten der Botschafter Nils Daag und Hans Lundborg ihr Engagement dokumentiert. Die Tagung fand zu Ehren Otto Binders statt. Das Ehrenmitglied der öge hätte 2010 seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Erinnerungen 68 _ZWISCHENWELT Die „mehrfache Radikalisierung“ erscheine „bereits als unmittelbare Bedrohung am Horizont“. Die Kapitel in diesem Buch sind von einer Vielseitigkeit an Zugängen geprägt. Sie kommen ohne theoretische Konstrukte aus und verärgern den Leser an keiner Stelle mit unnötigen Fachtermini. Hier werden keine Erklärungsmodelle erstellt, sondern Zusammenhänge und Komplexitäten mit Hilfe von Beispielen und dem Aufgreifen unterschiedlicher Teilaspekte aufgedeckt. Durch diese Vorgangsweise könnten jedoch auch Erwartungen enttäuscht werden. Die Beiträge bewegen sich in einem Übergangsbereich zwischen wissenschaftlicher Studie und Essay. Es wird nicht mit Fußnoten gearbeitet, wenn auch jedem Beitrag eine Liste an Verweisen und Anmerkungen nachgestellt ist. In dem Umkreisen des Gegenstandes wird den aufgegriffenen Exempeln wenig Platz eingeräumt, durch den rasanten Ihemenwechsel bricht die Analyse mitunter zu rasch ab. Die große Anhäufung von Wissen und Annäherungen, die dem Leser zuteil werden, die aufwendige Recherche- und Gedankenarbeit der Autoren lassen dennoch niemals den Eindruck von Oberflächigkeit entstehen. an seine außergewöhnliche Vita und Person ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Mit einem autobiographischen Text, in dem er von der „skurrilen Hölle“ der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald, der „Angst und Beklommenheit“ in der Stadt Wien des Jahres 1939 und über die Formung durch das Exilland Schweden schreibt, ist er selbst präsent.! In ihrem Grußwort rückt Österreichs in Schweden geborene First Lady Margit Fischer, die Tochter von Anni und Otto Binder, zudem die Verdienste der Mutter in den Blickpunkt. „Eine einfache junge Frau aus Saalfelden“ wurde zum „ruhenden Pol während der Emigration“, wie die innigen Fotos aus dem Album der Jungfamilie belegen, und zum „Fundament seiner erfolgreichen Rückkehr nach Wien“. Margit Fischer stellt dem langen Nicht-Reden-Können oder -Wollen vieler Vertriebener der ersten Generation die hohen Nachfrage-Hemmschwellen der nächsten Generation zur Seite. Der bekannte Zeitgeschichter Oliver Rathkolb, der Otto Binder persönlich kannte und seine biographische Annäherung und die Kontextualisierung einer „Persönlichkeit aus einer anderen Zeit“ auf ein Interview aus dem Jahr 1985 stützen konnte, fand in ihm einen „in der Retrospektive versöhnlichen Analytiker der Vergangenheit“. Dabei war der Sozialdemokrat jüdischer Herkunft nach dem Februar 1934 drei Monate inhaftiert, im April 1938 in das KZ Dachau und später in das KZ Buchenwald deportiert worden. 1939 wurde er auf Antrag seiner Mutter entlassen und bekam mithilfe des „Matteotti-Komitees“ ein Visum für Schweden. Der Gegenstand dieses Buches, soviel wird deutlich, ist den Autoren ein persönliches Anliegen, sie beziehen sich selbst in die Diskussionen, die sie anregen, mit ein. Sie bringen ihre persönlichen Meinung in dezentem Ausmaß zur Sprache, sei es in der Warnung vor heutigen Gefahren oder in Forderungen und Wünschen an Gesellschaft und Politik. Ein säkulares, laizistisches und demokratisches Weltbild ist eines dieser Anliegen und zugleich ein Lösungsmodell der Autoren. Denn: „Dieses ist die europäische Tradition, welche es zu bewahren gilt, nicht jene eines christlichen Abendlandes!“ Abgesehen davon, dass auch ein aufgeklärtes Weltbild einer genauen kritischen Erörterung bedarf, ist die historische Wirklichkeit eines christlichen Abendlandes, ob man diese will oder nicht, wohl nicht so einfach abzuschütteln. Der Umgang mit Minderheiten, das vermag dieses Buch zu vermitteln, ist auch und in hohem Ausmaß vom Selbstverständnis einer Gesellschaft abhängig. Thassilo Hazod Jost W. Kramer, Robert Schediwy: Minderheiten. Ein tabubelastetes Thema. Berlin: LIT Verlag 2012. 174 S. Euro 29,90 Das sozialdemokratische Engagement, das im Nach-Februar-34-Osterreich zu Gefangnis und Jobverlust gefiihrt hatte, wurde in Schweden, wo der Versicherungsexperte erst zum Metallarbeiter umfunktioniert wurde, zum Atout fiir das Uberleben. 1949 kehrte die Familie Binder nach Österreich zurück und zehn Jahre später wurde Otto Binder für 22 Jahre Generaldirektor der Wiener Städtischen Versicherung, jenem Unternehmen, das ihn 1934 wegen der Haft fristlos entlassen hatte. Die uns stets präsente Exilforscherin Siglinde Bolbecher thematisierte anhand ihrer Präsentation über „Anni und Otto Binder“, die von ihrem Mann Konstantin Kaiser als Buchbeitrag fertig gestellt wurde, Charakteristika der österreichischen Exilkultur. Sie belegt die Bedeutung von politisch-privaten Netzwerken im Exil, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als Teil der Exilbiographik und die Auswirkung der Spaltung des Exils für die Situation der Rückkehr. Mit ihrem genauen Blick auf menschliches Leiden spricht sie von der „Qual des Exils“: „Die politischen Gegner des Nationalsozialismus und die rassistisch Verfolgten ‚gingen ins Exil‘ — diese Formulierung unterstellt, das ‚Exil‘ sei als bezugsfertiges Gebäude irgendwo auf der Welt bereitgestanden, und unterschlägt, dass das ‚Exil‘ von den Vertriebenen erst erkämpft und erschlichen, erkauft und erbettelt werden musste.“ Sie verweist darauf, dass im Exil die angsterfüllte Ungewissheit über das Schicksal der zurückgebliebenen Verwandten und Freunde anhielt, begleitet von verzweifelten Bemühungen, diese Menschen zu retten. Für Hermine