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Binder, die ihren Sohn nach dem Tod des Vaters bei einem Eilmarsch im Ersten Weltkrieg die Schule finanziert und ihn 1939 aus dem KZ freibekommen hatte, lag seit Jänner 1942 ein schwedisches Visum am Konsulat, doch die deutschen Behörden stellten keine J-Passe mehr aus. Mutter Hermine, Schwester Heddy und Tante Frieda wurden 1942 in Maly Trostinec und Auschwitz ermordet. Für Otto Heinz begann das Exil schon 1934, als er seinem Vater Karl Heinz, Sekretär des Schutzbundes, mit einem fremden „Ersatzvater“ im Zug nach Brünn nachreiste. „Das war der Anfang einer langen Reise“, die weiter nach Schweden und Kalifornien führte und die die Familie nicht mehr zurück nach Wien brachte. 1948 heiratete er eine Studienkollegin und gebürtige Wienerin, drei Söhne wurden geboren. Er begann seine Arbeit als Physiker. Im Gegensatz zum Sohn hatte der Vater ernsthaft erwogen zurückzukehren, war aber unsicher, welcher Empfang ihn dort erwartete. Er starb 1965 in Berkeley. Helena Lanzer-Sillen kam im Februar 1939 achtjährig mit einem Kindertransport zu einer österreichischen Familie nach Schweden, Mutter und Schwester folgten. Die Mutter Wanda Lanzer, geborene Landau, war als Bibliothekarin bei der Arbeiterkammer Wien angestellt und ehrenamtlich Direktorin der Arbeitermittelschule. Der Vater, einmal von der Hausbesorgerin rechtzeitig gewarnt vor fremden Männern, die ihn abholen wollten, war Monate später zum Verschwinden gebracht worden. Helena Lanzer-Sillen blieb in Schweden, gründete eine Familie, arbeitete für den schwedischen Gewerkschaftsbund und wurde Direktorin beim Schwerhörigenverein in Stockholm. „In Schweden bin ich zu Hause, komme aber sehr, sehr gern nach Österreich, wo ich mir durch meine vielen Besuche beinahe mehr Freunde als in Schweden geschaffen habe.“ Die Mutter, die Arbeit im Archiv der Sozialdemokratischen Partei gefunden hatte, kehrte in ihrer Pension nach Wien zurück, als sie gebeten wurde, den Nachlass von Victor und Fritz Adler zu ordnen. Hellmut Weiss, 1921 in Wien-Währing geboren, konnte als 17-Jähriger die Schwedische Israel-Mission, die schon einen kleinen Bruder per Kindertransport gerettet hatte, mit eifriger Teilnahme an Bibelstunden überzeugen, sich für seine Aufnahme in Schweden einzusetzen. Seine Mutter, deren jüdische Eltern Taufscheine erstanden hatten, wurde denunziert, von der Gestapo verhaftet und 1943 mit ihrem zehnjährigen Sohn nach Auschwitz deportiert. Hellmut Weiss arbeitete später in der schwedischen Industrie als Ingenieur, heiratete eine Schwedin und sah keinen Grund in ein Land zurückzukehren, in dem „er ja zudem nicht willkommen“ sei. Es bestünden aber „liebe Verbindungen mit Österreichern und Österreich“, er sei Schwede und Österreicher zugleich. Sein Sohn Lennart Weiss, der sich als Schwede mit österreichischen Wurzeln bezeichnet, beschreibt seine GermanistikDissertation über den Wiener Journalisten und Schriftsteller Raoul Auernheimer, einen Großonkel des Vaters, als späte „Spurensuche, Reise in eine vergangene Welt, die meinen Verwandten, die nicht weiterleben durften oder Österreich verlassen mussten, gehörte.“ „(M)Eine Kindheit in Schweden“ nennt Miguel Friedmann, in Kolumbien geborener und in Schweden aufgewachsener, in der öge und der Iheodor Kramer Gesellschaft engagierter Wiener Naturwissenschafter seinen Beitrag und impliziert damit eine individuelle, aber von der Zeit maßgeblich geprägte Kindheit. Die Eltern Hans Friedmann, Sohn einer gutbürgerlichen jüdischen konservativen Familie, und Christina, geb. Popper, einzige Tochter eines Wiener jüdischen Arztes und einer nichtjüdischen Ärztin, waren im März 1938 Studenten der Chemie der Universität Wien. In seinen nicht publizierten Lebenserinnerungen hielt der Vater fest: „Es war klar, dass man als Jude und Kommunist nicht im Lande bleiben konnte.“ Im Exil in Kolumbien wollten die nunmehrigen Eltern von drei Kindern nicht bleiben. Sie optierten für ein Zwischenexil. „In Schweden fühlte ich mich als Kind tief verwurzelt, und als schließlich die Eltern für das Jahr 1953 ihre Rückkehr nach Österreich planten, begann ich schon, um meine Freunde und das Land Schweden zu trauern.“ Aber Österreich war „nicht (nur) grau“, es bot „atemberaubend hohe Berge und liebe neue Freunde“. Und Miguel Friedmann hatte „lange kein besonderes Bedürfnis auf Reisen zu gehen, denn es schien mir, ich hätte diese schon erledigt.“ „Aus den Aufzeichnungen meines Vaters Paul Böhm“ zitierte Tomas Böhm, Stockholmer „Arzt, Psychiater und Psychoanalytiker“ und „ein typischer Vertreter der zweiten Generation von Flüchtlingen“. Aber er war es eigentlich schon in dritter Generation. Großvater Vilmos Böhm, ungarischer Arbeiterführer und Sozialdemokrat, war 1919 nach Wien geflohen. Seit dem Mord an Dollfuß hatte die Familie in Bratislava gelebt. Mutter Klara, deren große Wiener Familie nach England, Frankreich, Australien, in die USA, nach Venezuela, Shanghai und Schweden geflohen war, hatte Bilder vom Großglockner und vom Stephansdom an der Wand hängen. Die Wohnung der Böhms war Treffpunkt der österreichischen Flüchtlingsgemeinde. „Die Verantwortung, Kinder in das hungernde Wien zu bringen, wollte ich jedoch nicht auf mich nehmen“, beschrieb Paul Böhm die Gründe für die Nicht-Rückkehr. Als Vertreter österreichischer Industrieunternehmen in Schweden hatte er viele Kontakte nach Österreich, aber es gab noch offene Wunden. Als eine späte Einladung zu einem Maturatreffen einlangte, schrieb er an die ganze Klasse, „was während des Krieges geschehen war, was Herr G. als Nazi-Spion getan hatte, welche Klassenkameraden ermordet worden waren, darunter Sozialisten und Juden, und welche Schul- und Klassenkameraden daran Schuld trugen.“ Sohn Tomas setzte sich auch beruflich umfassend mit den Folgen des Traumas der Vertreibung auseinander, das sein Vater Paul seiner Meinung nach unterschätzt habe, und entdeckte für sich die jüdische Identität, die die Eltern zugunsten der politischen Ideale zurückgestellt hatten. Die Familie Popper kehrte nach Österreich zurück und war eng mit der Binder-Familie befreundet. Für Lutz Popper, öge-Vorstandsmitglied und Mediziner, der bis zu seiner Pensionierung die Abteilung für Urologie in Oberwart leitete, war es eine Rückkehr wider Willen. „Mein Bruder und ich erlebten das Trauma vom Verlust der Heimat erst in dem Augenblick, als wir Bolivien verließen ... unsere gefühlte Heimat.“ Der Vater, ein Arzt, wollte zurück nach Europa, wie seine Briefe an einen Schweizer Freund und Kollegen belegen‘, um seinen „Beruf nach ethisch-moralischen Grundsätzen auszuüben, seine Kinder qualitativ adäquat und humanitär zu erziehen und menschlichen Kontakt zuähnlich denkenden Freunden“ zu haben. Über das Vorhandensein von Antisemitismus hatte er keine Illusionen, ihn gäbe es überall, aber „zu Hause bin ich höchstens der ‚Jud‘ und nicht noch obendrein der ‚Ausländer‘. Denn an meiner Bodenständigkeit werden auch die wüstesten Antisemiten nichts aussetzen können.“ Der Sohn diagnostizierte — auch bei den Vertriebenen — Verdrängung im Hinblick auf das Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes: „Auch mein Vater hat erst nach dem Jahr 1970, am Ende seines Berufslebens, damit begonnen, seine Erinnerungen aus der Zeit vor dem Krieg, die er verdrängt und vergraben hatte, wieder ins Bewusstsein zu entlassen. Er begann zu recherchieren, was denn mit seinen Verwandten geschehen wäre, wo sie sich, so sie am Leben waren, aufhielten.“ Während der Vater nach der Rückkehr von Anfang an um Zweckoptimismus bemüht war - so schrieb er dem Freund im November 1947, dass man sich „schon ganz schön hier eingelebt“ habe und sich freue, „den Kindern nach so vielen Jahren ein richtiges Weihnachtsfest bereiten zu können“ - und seine abrupt getrennten Karrierefäden wieder aufnehmen wollte („Die Aussichten auf eine Wiederaufnahme meines Habilitationsverfahrens stehen nicht ungünstig“), suchte der Sohn noch viele Jahre später nach Antworten, warum „überhaupt Menschen, die man gedemütigt und beraubt, deren Verwandte man teilweise ermordet hatte, jemals wieder in die Heimat der Täter zurückgekommen“ sind. „Der Generation meines Vaters scheint eine übermäßige Versöhnungstendenz eigen“, formulierte Peter Kreisky seine Irritation und versuchte eine Erklärung: „Vermutlich auch weil sie froh darüber war, dass die Gegenwart unvergleichbar war zur sozial und politisch zugespitzten Situation der Zwischenkriegszeit. Antidemokratische und antisemitische Tendenzen waren zwar immer wieder merkbar, hatten aber nicht in selbem Maße die gesellschaftliche Situation durchdrungen.“ Der 1944 in Stockholm Geborene, der als „Kind eines nach Österreich rückkehrenden Vater und einer ihr Heimatland Schweden verlassenden Mutter ... immer Mai 2014 69